Schlechte EU-Aussichten für die Türkei

Europaparlament kritisiert Ankara scharf. EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 wahrscheinlich

BRÜSSEL taz ■ Der „Erweiterungsschock“ vom Mai 2004, wo auf einen Schlag zehn neue Mitgliedsstaaten in die EU aufgenommen wurden, scheint überwunden. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung des Ecas-Instituts, die ihr Vorsitzender Mario Monti gestern in Straßburg vorstellte. Die Zuwanderungszahlen und Wirtschaftsdaten zeigen, dass der befürchtete Ansturm von Arbeitssuchenden auf die alten EU-Länder ausgeblieben ist und dass Länder ohne Beschränkungen für den Arbeitsmarkt davon wirtschaftliche Vorteile haben.

Zuzugsbeschränkungen, die Deutschland und Österreich noch bis 2009 aufrechterhalten wollen, Belgien, Luxemburg und Frankreich in abgeschwächter Form, sollten abgeschafft werden, rät Ecas. „Sie schaffen eine künstliche Trennung zwischen alten und neuen Mitgliedsstaaten und schüren Misstrauen und Vorurteile.“ Auch die neuen Mitgliedsstaaten werden in die Pflicht genommen: Sie müssten ihre Bürger besser auf die Herausforderungen vorbereiten, die bei der Arbeitsuche im Ausland auf sie zukommen.

In Bezug auf Bulgarien und Rumänien, die der EU voraussichtlich zum 1. Januar 2007 beitreten werden, rät die Studie zu mehr Gelassenheit. Die bisher vorliegenden Zahlen zeigen, dass Deutschland kein Traumziel für bulgarische und rumänischen Arbeitsuchende ist. Rumänen wandern vor allem nach Kanada und in die USA aus. Jeder Dritte, der in Europa bleibt, entscheidet sich für Italien, da die Sprache dem Rumänischen ähnlich ist. Für Bulgaren ist Griechenland das Hauptziel.

Am 26. September wird die EU-Kommission in einem Sonderbericht entscheiden, ob sie den Beitritt beider Länder zum 1. Januar 2007 empfehlen kann. In Kommissionskreisen heißt es, die Entwicklung in Bulgarien in Bezug auf Korruption und Kampf gegen das organisierte Verbrechen sei zwar enttäuschend. Nach einem Beitritt könne Brüssel aber durch zusätzliche Auflagen mehr Druck und stärkeren Einfluss ausüben.

Deutlich ungünstiger sind die Prognosen für den weiteren Verlauf der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Am Montagabend sprach sich der Auswärtige Ausschuss des Europaparlaments mit großer Mehrheit für einen Bericht aus, der die Entwicklung überaus kritisch einschätzt. Bis spätestens Ende 2006 müsse das Ankara-Protokoll, das die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der griechischen Republik Zypern regelt, umgesetzt sein. Bis Ende 2007 müssten rechtsstaatliche Grundlagen wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung für religiöse Minderheiten gewährleistet sein. Andernfalls, so das Europaparlament, müssten die Verhandlungen mit Ankara ausgesetzt werden.

Eine Analyse der Brüsseler Denkfabrik „Freunde Europas“, die den Konservativen nahe steht, sagt für den Herbst einen Eklat in den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei voraus. Auf beiden Seiten wachse die Überzeugung, dass es der Partner mit seinen Zusicherungen nicht ernst meine.

An der verfahrenen Situation trage die Europäische Union eine Mitschuld. Sie hätte Zypern erst aufnehmen dürfen, wenn für die geteilte Insel eine befriedigende Lösung gefunden worden wäre. Mehrere CDU-Politiker haben denn auch die Stellungnahme des EU-Parlaments zum Anlass genommen, einen Stopp der Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu fordern.

DANIELA WEINGÄRTNER