Auf der Insel der fehlenden Vögel

Wuchernde Schaumstoffmassen schlucken in Via Lewandowskys Installation „Paeninsula“ im Neuen Berliner Kunstverein die Romantik

Formlose, breiig süße Klischees: Vielleicht sind sie doch nur romantische Scheiße

VON HENRIKE THOMSEN

Als 2001 das Jüdische Museum eröffnet wurde, präsentierte Via Lewandowsky darin seine „Galerie der verschwundenen Dinge“. Er stellte schwarze Glasskulpturen in die „Voids“, die hohen Leerräume des Libeskind-Baus. Ein Audio-Guide beschrieb dem Besucher Gegenstände, die er hinter dem schwarzen Glas nicht sehen konnte – und die sich vielleicht nicht einmal dort befanden, die vielleicht nur die Funktion des Triggerns von reinen Erinnerungen und Imaginationen hatten.

Die jüngste Installation des 1963 in Dresden geborenen Künstlers im Neuen Berliner Kunstverein knüpft an diese Arbeit an. Auch hier werden Gegenstände und Situationen evoziert, die sich dem Betrachter entziehen, und eine beredte Tonkulisse existiert neben einer essenziell stummen Objektwelt. Nur: Diesmal vollzieht sich das geheimnisvolle Verschwinden der Gegenstände im hell erleuchteten Galerieraum.

Blaue Styropormassen breiten sich vor den Augen aus: Auf dem roten Boden und in den Ecken türmen sich satte Batzen; auf Sockeln finden sich kleinere Kleckse, manche liegen herum wie eine Skulptur für sich, öfter aber sind sie platziert: in einem Vogelkäfig, einem Zaunkarree aus Stacheldraht oder einer kaputten Glasvitrine. Es ist, als blicke man auf ein großes Störmanöver. Denn das Styropor scheint die eigentlichen Exponate konsumiert zu haben. „Etwas zu schlucken“ ist ja die Aufgabe von Schaumstoff, der Wärme und Schall isoliert oder zur Verpackung eingesetzt wird. Dabei ist Schaumstoff aber eben nicht monolithisch und dicht, sondern eine Verbindung winziger, verkapselter Luftblasen. Dem Material entsprechend wird Lewandowskys Installation beherrscht von einer geheimnisvoll animierten und gleichzeitig autistischen Atmosphäre, die durch die Beschallung des Raums mit Flügelschlagen und Taubengurren noch verstärkt wird.

Welche könnten die unsichtbaren, „geschluckten“ Dinge sein, um die es hier offenbar geht? Die Installation will schon durch den Titel „Paeninsula“ (Halbinsel) zu einer Reise einladen, wirft den Betrachter aber zugleich auf seine Assoziationen zurück. Der Katalogtext legt nahe, man befinde sich in einer künstlerischen Landkarte des Bewusstseins, in einer allegorisch überformten Seelenlandschaft. Er verweist auf Bilder wie Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“ – tatsächlich kommen einem beim Anblick der Styroporberge eher die Klippen und Eisberge aus Caspar David Friedrichs Meerbildern in den Sinn. Der Schlüssel zu Lewandowskys Arbeit allerdings scheint weniger die emphatisch-romantische Naturverzückung als die romantische Ironie: Die blaue Blume hat sich in eine wuchernde Polymerisatmasse verwandelt. Man hört zwar noch ein paar Tauben, aber die Nachtigall liegt erschlagen unter einem der Plastikklumpen.

Die Farbe Blau – als Farbe der Freiheit, der Nacht und des Deliriums – und das Motiv des verschwundenen Vogels als Symbol der Fragilität, der Kunst und des Künstlers können dem Wanderer in der Ausstellung als Leitfaden dienen. Die inneren Bilder, die er mit diesen Motiven verbindet, geraten erbarmungslos auf den Prüfstand. Unwillkürlich fängt man an, ihnen als formlos gewordene, ungenaue Klischees, die breiig süß im Gehirn liegen, zu misstrauen – vielleicht sind sie ja doch nur romantische Scheiße. Lewandowskys Arbeit weist auf den Fetischcharakter hin, den manche Dinge heimlich in uns angenommen haben: Gerade weil sie gewohnte Topoi mit einer blauen, teigigen Masse unkenntlich macht, spielt sie mit den Triebkräften unserer Imagination: So wirken die blauen Haufen niemals eklig, sondern lassen ihre Stellvertreterfunktion als Fetisch, als Sehnsuchts- und Faszinationspole nur umso deutlicher spürbar werden.

Ein weiteres großes Motiv der Romantik ist die Insel als Symbol des einsamen, auf sich geworfenen Subjekts. Lewandowsky bricht diesen Pathos, zeigt aber, wie wir auf ihn reflektieren. Der „abjekten“ blauen Masse setzt er bewusst einhegende, genau definierte Orte entgegen: einen Sockel, eine Vitrine, einen umzäunten Hof. Dabei wird der dekorative Schaumstoff mit Gewalt in Verbindung gebracht: Das Glas der Vitrine ist zerschmettert, der Miniatur-Stacheldrahtzaun lässt an ein Lager denken. Die Frage nach dem, was an diesen Orten ursprünglich gewohnt haben mag, verschiebt sich zu der Frage, ob es nicht ebenso sehr um die Container geht.

Auf dem Katalogcover ist ein Vogelkäfig zu sehen, in dem nicht die blaue Kunstmasse haust, sondern ein Wellensittich. Aber im Gegensatz zum säuberlich intakten Käfig in der Galerie ist dieses Gehäuse in der Mitte durchgeschnitten, der Vogel kann jederzeit heraus. Es geht Lewandowsky um das Spannungsfeld von Freiheit und Beschränkung, Fantasie und konkreter Gegenständlichkeit, Gewalt und Geborgenheit, in dem sich unsere Vorstellung der Welt bildet.

Bis 15. 10., Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr. 128/129, Di.–Fr. 12–18 Uhr, Sa./So. 14–18 Uhr, Katalog 28 €Ľ20. 9. , 19 Uhr: Via Lewandowsky über „The Making of Paeninsula“