Fernab der Tragödie

Das Hamburger Rote Kreuz unterstützt soziale Projekte in St. Petersburg. Jetzt haben Jugendliche aus Beslan, die vor zwei Jahren die Geiselhaft in ihrer Schule überlebten, die Chance auf ein Studium

Aus St. PetersburgElke Spanner

Wäre in das „Warme Haus“ in St. Petersburg kein Geld des Hamburger Roten Kreuzes geflossen, sähe die Altentagesstätte wohl noch aus wie die im benachbarten Bezirk Krasnogwardejskij Rayon. Mit Worten ist die kaum zu beschreiben – allenfalls mit Assoziationen: Knast, Ruine, Loch. Man könnte hier von verschimmelten Wänden berichten. Von Fenstern, die so blind sind, dass durch sie kein Licht mehr fällt. Man würde keinen Ausnahmezustand beschreiben, sondern den Standard einer sozialen Einrichtung, wie er in St. Petersburg üblich ist.

Um hier ein wenig Abhilfe zu schaffen, engagieren sich der Hamburger und schleswig-holsteinische Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes seit Jahren. Die Renovierung der Altentagesstätte in Krasnogwardejskij Rayonist ist das nächste Projekt, das auf der Agenda steht – falls eine Sanierung des verrotteten Gebäudes überhaupt noch möglich ist.

Das Warme Haus am Ulitza Borowaja wurde bereits im Jahr 2000 renoviert. Es ist zu einer Altentagesstätte geworden, zu deren Besuch viele Rentner lange Wege mit dem Bus in Kauf nehmen. Das Haus steht speziell alten Leuten offen, die am Rande des Existenzminimums leben müssen. Rund ein Drittel aller Bewohner von St. Petersburg sind Rentner – mehr als 200.000 von ihnen haben die 900-tägige Blockade durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg erlebt. Die Lebensqualität dieser Gruppe, sagt Tatjana Kichigina, stellvertretende Präsidentin des Roten Kreuzes in St. Petersburg, sei „sehr niedrig: Besonders für allein stehende Alte ist die Situation schrecklich“.

Die Rente beträgt oft nicht mehr als umgerechnet 100 Euro monatlich. Das reicht für eine begrenzte Anzahl Lebensmittel, für Medikamente aber schon nicht mehr. Im Warmen Haus bekommen die alten Leute mittags ein warmes Essen – schon dafür lohnt sich der Besuch. Anna Iwanowna beispielsweise lebt in einem Zimmer mit ihrem 45-jährigen Sohn, der seit einem Hirnschlag pflegebedürftig ist. „Wenn ich im Warmen Haus esse, brauche ich nur noch für meinen Sohn zu kochen“, erklärt die weißhaarige 73-Jährige, wie sie mit dem knappen Geld über die Runden kommt.

Neben der schlichten Überlebenshilfe finanziert das Deutsche Rote Kreuz dem Warmen Haus einen Juristen und einen Sozialarbeiter. Zudem können Rentner dort zwei bis vier Wochen kostenfrei wohnen – und Urlaub vom anstrengenden Alltag in Armut machen. Tatjana Kichigina beschreibt als Ziel der Rote-Kreuz-Arbeit nicht nur, den Alten Abwechslung, Beratung und Versorgung zu bieten. Sie spricht vom „Schutz der Menschenrechte“.

Seit 1999 engagiert sich das Hamburgische Rote Kreuz in St. Petersburg. Seither wurde ein Kindergarten für Flüchtlingskinder eingerichtet, eine Beratungsstelle für Migranten sowie mehrere Suppenküchen für Obdachlose – und Straßenkinder. Unter anderem hat das Deutsche Rote Kreuz für ein Waisenhaus in Puschkin einen Spielplatz finanziert. Zusammen mit dem Landesverband von Schleswig-Holstein wird zudem das Kinderheim „Storch“ unterstützt.

In einem Hof am Lesnoj Prospekt in der City von St. Petersburg liegt ein Studentenwohnheim, das ebenfalls Geld aus Norddeutschland erhält. Baufällig von innen und außen, nur zwei Räume stechen optisch heraus: Der Computer- und der Sportraum sind neu hergerichtet und modern. Obwohl die Zimmer der Studenten nach westlichem Maßstab klein und renovierungsbedürftig sind, sagt der 19-jährige Saur, dass die Unterkunft „komfortabel“ sei. Er empfindet es als großes Geschenk, überhaupt dort leben zu dürfen.

Saur kommt, wie mehr als 50 seiner Mitbewohner, aus dem nordossetischen Beslan. Dass sie nun in St. Petersburg studieren, rührt von einer unvergessenen Tragödie her: Im September 2004 hatten tschetschenische Terroristen eine Schule in Beslan überfallen und die Anwesenden drei Tage lang in Geiselhaft gehalten. Als die Geiselnahme durch Sicherheitskräfte beendet wurde, starben dabei 330 Menschen, darunter 180 Kinder. Für die Überlebenden hat die Petersburger Universität Engecon eine spezielle Klasse eingerichtet, in der Beslaner Jugendliche zunächst ihren Schulabschluss machen und anschließend studieren können.

Zehn Jahre lang läuft das Programm. Zurzeit ist der zweite Jahrgang in St. Petersburg. Für die Jugendlichen ist die Teilnahme eine große Chance – und schwierige Herausforderung zugleich. Natürlich habe sie starkes Heimweh, sagt die 19-jährige Alana, und der 17-jährige Aslan nickt auf die Frage danach wortlos mit dem Kopf. Das Hamburger Rote Kreuz finanziert die Stelle eines Sozialarbeiters und einer Psychologin, die den Jugendlichen helfen sollen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und ein neues Leben fernab vom Ort der Tragödie aufzubauen.

Trotzdem ist die finanzielle Hilfe, die aus dem Westen kommt, kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch internationale Organisationen können die große Armut breiter Bevölkerungsschichten in Russland nicht beseitigen, nur an einzelnen Stellen ein wenig lindern. Aber immerhin, sagt Tatjana Kichigina, die stellvertretende Vorsitzende des Petersburger Roten Kreuzes: „Wir tun überhaupt etwas.“