Der Marxismus siegt

WAHL Den Kurs beim größten Umbau des deutschen Katholizismus seit Jahrzehnten bestimmt ein Vertrauter des Papstes. Dessen Reformen sollen Vorbild sein

AUS MÜNSTER BERNHARD PÖTTER

Es sah aus wie eine Fastenpredigt, aber es war eine Bewerbungsrede: „Wenn die Kirche die Realität nicht annimmt, dann landet sie am Nullpunkt, beim Tod“, sagte der Münchener Erzbischof und Kardinal Reinhard Marx am Mittwoch beim Frühgottesdienst im Dom von Münster. Die „übergroße Barmherzigkeit Gottes“ zeige den „Weg, den die Kirche in Deutschland gehen soll“, ohne Angst und „mit unserer frohen Botschaft“.

Seine Bischofskollegen in den lila Gewändern der Fastenzeit verstanden die Botschaft. Und wählten drei Stunden später im Münsteraner Priesterseminar Borromaeum das apostolische Alphatier Marx zum neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Im vierten Wahlgang bekam er die absolute Mehrheit der 63 Stimmen. Sechs Jahre lang wird nun die kräftigste und politischste Stimme unter den Oberhirten die Arbeit in den 27 deutschen Bistümern koordinieren, nach außen vertreten und so weit wie möglich beeinflussen – ganz im Sinne von Papst Franziskus und seinen Reformen. Die nannte Marx nach seiner Wahl auch gleich als Beispiel. Wie Franziskus wolle er die Freude am Evangelium verkünden und den Dialog mit den Gläubigen weiterführen. Bei der Dezentralisierung der Kirche sei „der Geist aus der Flasche“, und auch eine Verlagerung der DBK von Bonn nach Berlin könne man diskutieren.

Auf den Sieg des „Marxismus“ hatte der Kardinal in den letzten Monaten hingearbeitet. Am Vortag der Abstimmung hatte er bei einer vertraulichen Debatte unter den Bischöfen sein Selbstbewusstsein, seine guten Kontakte nach Rom und seinen Charme ausgespielt. Gegenüber seinem engsten Konkurrenten, dem liberalen und bodenständigen Franz-Josef Bode aus Osnabrück, stand er im Verdacht, sich zu viel um Karriere und das große Ganze zu kümmern und zu wenig um die Gemeinden vor Ort. Prompt erklärte Marx nach der Wahl, er könne ja manche Aufgaben abgeben.

Wie weit ihm seine Mitbrüder bei seinen Plänen folgen, ist ungewiss. Denn die Macht des DBK-Vorsitzenden ist nicht von dieser Welt. Er gilt als das Gesicht der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit, hat aber vor allem eine moderierende Funktion. Der Oberoberhirte hat keine Sanktionsmöglichkeiten, sondern muss die Herde zusammenhalten, in Talkshows eine gute Figur machen, diskret Fehler ausbügeln und einen kurzen Draht nach Berlin und nach Rom haben. Marx erfüllt diese Kriterien besser als jeder andere Kandidat. Die Reformer der Bewegung „Wir sind Kirche“ forderten vom machtbewussten Marx einen „konstruktiven Dialog mit Priestern und dem Kirchenvolk“ und hoffen auf einen Gesprächstermin – den ihnen bisher die DBK-Vorsitzenden verweigerten.

Dem moderat-konservativen Marx kam entgegen, dass das konservative Lager nach dem Abgang der Bischöfe Meisner, Tebartz-van Elst und Müller keinen strategischen Kopf mehr besitzt. Und das in einer entscheidenden Zeit: Die Bischöfe müssen entscheiden, wie es mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle weitergeht, das Vertrauen bei Politik und Gläubigen ist ramponiert, und in den nächsten Jahren wird jeder dritte Bischofsstuhl neu besetzt: Passau, Erfurt, Mainz, Hamburg, die wichtigen Diözesen Köln und Freiburg und wohl auch Limburg. Marx als Vertrauter des Papstes wird beim größten Umbau der katholischen Kirche seit Jahrzehnten den Kurs bestimmen.