„Das war ein großes Projekt“

LESUNG In „Die Verlorenen“ beschreibt Daniel Mendelsohn seine Suche nach dem Schicksal von sechs Mitgliedern seiner Familie, die während der Shoah in Galizien ermordet wurden

Schon als Junge löcherte ich meinen Großvater mit Fragen über „die Mischpoke“

INTERVIEW REBECCA CLARE SANGER

taz: Herr Mendelsohn, ihr Buch „Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ dokumentiert, fast krimihaft, ihre Recherche nach sechs jüdischen Verwandten, die während der Shoah in Galizien umgebracht wurden. Sind Sie erleichtert, deren Schicksal aufgearbeitet zu haben?

Daniel Mendelsohn: Klar! Das war ein großes Projekt, an dem ich gearbeitet habe. Über Onkel Shmiel, Tante Ester und deren vier Töchter war in unserer Familie nur bekannt, dass sie in Bolechow, dem Schtetl, aus dem meine Familie stammt, geblieben waren und während der deutschen Besatzung ermordet wurden. Schon als Junge wollte ich wissen, was aus ihnen geworden war, und löcherte meinen Großvater mit Fragen über „die Mischpoke“.

Sie beschreiben ein Treffen mit Bolechower Überlebenden, die sich schwertun, ihre Geschichte, oft das Einzige, was ihnen geblieben ist, einem Jungspund von Amerikaner zu erzählen – denn der würde sie sich gewissermaßen aneignen. Wie fühlen sich die Bolechower, nachdem das Buch erschienen ist?

Sie sind erleichtert. Denn viele hatten auch die Sorge, dass ihre Geschichte nie erzählt würde. Das Buch wäre nicht entstanden, gäbe es in Ihrer Familie nicht so einen starken Familiensinn.

Ist Familiensinn etwas Jüdisches?

Nö, würde ich nicht sagen. Die Italiener haben ihn, die Franzosen! Meine Geschichte ist eine Familiengeschichte. Und weil ich aus einer jüdischen Familie stamme, schreibe ich über die Geheimnisse, die Leerstellen, das Ungesagte in unserer Familie. Und das ist nun mal mit dem Holocaust verwoben. Wissen Sie übrigens, wo mein Buch am besten angekommen ist? In Frankreich. Nicht nur in Israel und Amerika. In den ehemals besetzten Gebieten kam es eigentlich mit am besten an. Was ich merkwürdig finde, ist, dass es in Deutschland in den Buchbesprechungen immer so ernst zugeht. In all den anderen europäischen Ländern wurde die Geschichte wie ein spannender Detektivroman aufgenommen. Aber ich glaube, in diesem Land ist es ganz normal, dass das Buch mit einer solchen Ernsthaftigkeit aufgenommen wird.

Im Buch durchweben Sie die Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte der Genesis und den Interpretationen zweier Kommentatoren. Wie sind Sie dazu gekommen? Sind Sie gläubig?

Nein. Ich bin Atheist. Dieser Erzählstrang ist erst zu einem späteren Zeitpunkt dazugekommen. Ich beschäftigte mich mit Beziehungen zwischen Brüdern. Und in meiner Recherche kam ich natürlich auf die Geschichte von Kain und Abel. Mit dem Einfügen dieses Erzählstranges bekommt die Geschichte etwas Generelleres, Allgemeingültigeres.

Nun die Standardfrage: Wie fühlen Sie sich dabei, das Buch hier in Deutschland vorzustellen?

Mich fragt man oft: „Sag mal Daniel, hast du nicht vielleicht Angst vor den Deutschen?“ und ich sage: „Nein! Wenn ich vor jemandem Angst habe, dann vor den Ukrainern!“ Es bleibt natürlich nicht aus, wenn man Deutschland bereist, zu denken: „Ah, hier ist der Reichstag, hier ist das und das passiert.“ Aber mir geht das eigentlich nur so mit Orten, nicht mit den Menschen. Da denke ich nicht: „Wo war deine Familie vor 70 Jahren?“ Ich denke, der zweite Weltkrieg ist eben noch nicht lange her. Es wird noch ein paar Generationen brauchen, bis das alles verwunden ist. Aber während ich das Buch geschrieben habe, sagte meine Mutter zu mir, ich müsse meinen Blick auch nach vorn richten. Das ist wie mit Lots Frau: Man kann erstarren, wenn man zu sehr zurückblickt.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich bin Altphilologe. Mein nächstes Buch ist eine Art Anleitung, die dabei hilft, die antiken Werke zu lesen. Für die Recherche reise ich rund ums Mittelmeer.

■ Daniel Mendelsohn liest aus „Die Verlorenen“ (KiWi, 640 S., 24,95 Euro) am Di, 28. 9. um 20 Uhr im Jüdischen Salon im Café Leonar, Grindelhof 59