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: Kultstar kapert Kreuzfahrtschiff

Bayern München muss heute – mal wieder – beim FC St. Pauli antreten und löst damit – wieder mal – Klischeeterror aus

Es gibt Erscheinungen, die haben eine angenehm kurze Verweildauer. Superstars zum Beispiel. Oder Orange. Gestern noch täglich auf RTL abgefeiert oder einer Revolution das Attribut gegeben, heute schon vergessen. Daniel Küblböck!? Müsste inzwischen wohl ein Kreuzfahrtschiff kapern, um noch mal zur besten Sendezeit losplappern zu dürfen. In der Ukraine ist auch nicht Glück und Wohlstand ausgebrochen. Das hat Orange als Farbe der Hoffnung in Misskredit gebracht. Weshalb man, wenn man derzeit im Berliner Kommunalwahlkampf CDU-Politiker mit ihren orange Käppis sieht, Mitleid bekommen kann. Manche merken zu spät, dass ein Trend vorbei ist. Oder gar ein Kult.

Orange jedenfalls ist gerade nicht en vogue, das gilt auch für den Fußball. Es gibt mittlerweile Holländer, die nicht mehr Oranje-Fans, sondern Sympathisanten der deutschen Nationalmannschaft geworden sind. Weil die erfolgreicher spielt und, sagen die Holländer, auch noch schön, also holländischer als Oranje selbst. Da erodiert eine alte, gern und gut gepflegte nachbarliche Fußballfeindschaft. Vom Ende der Animositäten braucht man vielleicht noch nicht zu sprechen, aber immerhin. Es existieren Kontakt zur Wirklichkeit und der gute Wille, althergebrachte Einschätzungen gelegentlich zu ändern. Was nicht drin ist: irgendeine Form von Kult.

Daran könnte sich jede Begegnung des FC St. Pauli mit dem FC Bayern München ein Beispiel nehmen. Respektive die Wahrnehmung dieser Begegnungen, denn die ist reiner Klischeeterror. Im Pokal ist es bekanntlich recht verbreitet, dass Außenseiter auf Favoriten treffen. Aber wenige Partien sind so unverwüstliches Material für Märchenstunden über unten und oben wie diese: der Kultklub gegen den Rekordmeister, die Kiezkicker gegen die Nationalspieler, Arm gegen Reich, blablabla. Und das Irre ist: Genau das passiert immer wieder, es hört einfach nicht auf, so blödsinnig und ausgelutscht es auch ist.

Das Spiel St. Pauli gegen Bayern am Millerntor hat es allein in den vergangenen vier Jahren viermal gegeben. Nur einmal, 2002, spielten beide ausnahmsweise in einer Liga, dann kam ein Benefizspiel, dann in diesem Frühjahr ein Halbfinale im DFB-Pokal und heute nun ein Pokal-Erstrundenspiel zwischen einem schlecht gestarteten Drittligisten und einem auch nicht gerade in großer Form befindlichen Deutschen Meister.

Und was sehen wir: Es gibt kein Einsehen. Eines der möglicherweise langweiligsten unter den Pokalspielen dieses Wochenendes läuft im Hauptabendprogramm live im ZDF. Aber das Spiel an sich ist ja auch egal. Hauptsache Rekordmeisterspieler, die artig in jedes Mikrofon plappern, die Atmosphäre am Millerntor sei einzigartig und die Fans ganz, ganz toll. Ach ja, das Lokalkolorit. Die Wahnvorstellung von der sündigen Meile St. Pauli wird es im Fernsehen vermutlich noch geben, wenn die allerletzte Prostituierte ihre Umschulung abgeschlossen hat.

Wer zu Masochismus neigt, möge am Sonnabend einschalten und zählen, wie oft das Wort „Kultklub“ fällt, das Wort „Underdog“, das Wort „Kiezkicker“. Oder wie lange es dauert, bis die Anekdoten hervorgekramt werden, die von Uli Hoeneß erzählen und wie er einst am Millerntor als Feind im Klassenkampf mit Münzen beworfen und später als dufter Typ im Retter-T-Shirt gefeiert wurde. Vermutlich wird erwähnt, dass der Rasen ein Acker ist, aber immerhin nicht gefroren, und unbedingt muss noch erzählt werden, dass unter dem urigen Klubheim marode Mannschaftsduschen den Bayern-Spielern einen Schrecken einjagen. So wird’s sein. So ist es immer.

Die gute Nachricht: Für mindestens ein Jahr ist danach Ruhe. Es sei denn, der Kultklub, der schräge Underdog gewinnt gegen den hoch favorisierten Double-Double-Gewinner sensationell, und die einzigartigen Pauli-Fans feiern in ihren Totenkopfsweatshirts bis zum Morgengrauen im Rotlichtviertel. Und es gibt viele Nachberichte.

Über diese Schreckensvision decken wir jetzt ganz schnell einen orangefarbenen Schal und lassen Daniel K. laut kreischen.

KATRIN WEBER-KLÜVER