„Bush beutet die Angst der Amerikaner aus“

Der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle über die Reaktionen der USA auf 9/11, den Hass der Welt auf die Amerikaner und die Freiheit des Künstlers, das Thema 11. September nicht unbedingt wichtiger zu finden als andere

taz: Herr Boyle, erinnern Sie sich noch an den 11. September 2001?

T. C. Boyle: Ich hatte damals zum Glück sehr viel zu tun, ich habe an den letzten Korrekturen meines Romans „Drop City“ gearbeitet. Deshalb hatte ich nicht die Zeit, mir den ganzen Tag lang die Bilder im Fernsehen anzusehen und die Ereignisse emotional an mich heranzulassen. Den Horror dieses Tages habe ich erst später realisiert.

Was dachten Sie damals?

Es wurde mir plötzlich bewusst, wie sehr wir Amerikaner gehasst werden. Und ich habe mich gewundert, dass man das nicht früher verstanden hat. Wir haben den Nahen und den Mittleren Osten seit Generationen attackiert, zerstört und unterjocht und hätten wissen müssen, dass so etwas irgendwann passiert. Und die Reaktion der Bush-Regierung auf 9/11 hat das alles tausendfach verschlimmert – auf Generationen hinaus.

Wie haben die amerikanischen Intellektuellen auf 9/11 reagiert?

Eines ist klar – sie sind einheitlich gegen George W. Bush. Aber darüber hinaus ist es schwer, allgemeine Aussagen zu treffen.

Hat 9/11 die US-Gesellschaft wirklich verändert?

Ja. Die amerikanische Gesellschaft wird nur noch von Angst geleitet. Angst vor Anarchie und Chaos im Nahen Osten. Angst vor einem neuen Attentat. Diese Angst führt wohl leider zu noch mehr Fremdenhass und noch mehr Rassismus. Und sie wird von der Politik rigoros ausgebeutet.

Viele Ihrer Kollegen, wie John Updike und Ian McEwan, haben 9/11 zum literarischen Thema gemacht. Warum schreiben Sie nicht über 9/11?

Ich bin Künstler, und Künstler haben zum Glück die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihre Träume ihnen diktieren. Ich bin mir sicher, dass 9/11 meine Arbeit beeinflussen wird. Wie, kann ich aber noch nicht sagen.

Aber Sie sind ein politischer Schriftsteller. Ihr Buch „America“ hat die jetzige Debatte über illegale Einwanderung und die Grenze zu Mexiko um 10 Jahre vorweggenommen.

Das stimmt. Aber ich möchte mich nicht von einem bestimmten Ereignis kidnappen lassen. Mich interessieren im Moment in erster Linie die Auswirkungen neuer Technologien. In meinem letzten Roman, „Talk Talk“, geht es auch darum, welche Überwachungsmöglichkeiten die neuen Technologien – biometrische Ausweise, Grenzkontrollen mittels Augenscans etc. – dem Staat bieten und welche Risiken das birgt. Und das ist nach 9/11 ja ein wichtiges Thema. Ich glaube aber nicht, dass das einzig Relevante derzeit ein Roman über 9/11 ist – und andere Themen irrelevant sind.

Deshalb erzählen Sie scheinbar unberührt weiter Ihre Geschichten?

Wenn ich einen politischen Essay schreiben würde, wäre das vielleicht wirkungsvoll. Aber ich kann Themen so nicht angehen. Wenn ich etwas verstehen will, dann muss ich mich durch Erzählen annähern. Ich kann und will den Lesern keine Meinung aufzwingen. Ich will sie verführen.

Dadurch drücken Sie sich aber auch um eine klare Position.

Ja, und zwar bewusst. Die meisten Dinge lassen sich nicht sauber in Ja oder Nein, Gut oder Böse auflösen. Die meisten Dinge sind zwiespältig, kompliziert. Ich finde etwa in der Frage der illegalen Einwanderung die linke Position – Grenzen auf – ebenso simpel wie die konservative – Grenzen zu. Für die meisten Dinge gibt es keine einfache Lösung, so wie die Politik es uns weismachen will. Politiker müssen so tun, als gebe es eine Lösung. Ich muss das zum Glück nicht. Aber die Leute wissen schon, wofür und wogegen ich stehe.

Zum Beispiel gegen George Bush.

Ja. Er demontiert unsere Grundrechte. Er hat unter dem unsinnigen Slogan „Krieg gegen den Terror“ im Nahen Osten eine Situation geschaffen, deren Folgen wir noch gar nicht absehen können.

INTERVIEW: SEBASTIAN MOLL