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Archiv-Artikel

Vom Feldherrnhügel aus gesehen

GESCHICHTSSCHREIBUNG Der Historiker Jörn Leonhard betrachtet den Ersten Weltkrieg aus einer globalen Perspektive – mit beeindruckendem Überblick und viel Sinn für Details. Sprachlich-stilistisch hat er eher wenig zu bieten

Dass man mit Worten spielen und Dinge nah und fern rücken kann, das ist in diesem Buch schmerzlich abwesend

VON STEFAN REINECKE

Der Journalist Arthur Bernstein schrieb am 30. Juli 1914 einen weitsichtigen Leitartikel für die Berliner Morgenpost. Die deutschen Kriegstreiber würden scheitern: England werde nicht neutral bleiben, und wenn England kämpfe, werde auch die USA intervenieren. Der Schlieffen-Plan, mit dem der deutschen Generalstab im Handstreich Paris erobern wolle, sei nur eine Fantasie. „Eine Million Leichen, zwei Millionen Krüppel und fünfzig Milliarden Schulden werden die Bilanz diese ‚frischen, fröhlichen‘ Krieges sein. Weiter nichts.“ Der Artikel war schon gesetzt, da kam die Nachricht von der Generalmobilmachung in Russland. Der Krieg begann. Bernsteins Text blieb ungedruckt. Dabei lag Bernstein richtig: Vier Jahre später gab es allerdings nicht eine, sondern zehn Millionen Tote.

Diese Anekdote zeigt, was man 1914 mit klaren Verstand erkennen konnte. Auch die Generalstäbe konnten wissen, welche Gewaltexplosion der maschinisierte Krieg bedeuten würde. Sie kannten die Schlachten des Amerikanischen Bürgerkriegs und des Russisch-Japanischen Kriegs 1905. Der russische Unternehmer Ivan Bloch hatte 1899 eine sechsbändige Studie über die Zukunft des Krieges veröffentlicht und exakt skizziert, wie Maschinengewehre und Geschütze die Schlachten verändern würden. Es werde gigantische Blutbäder geben und ein Patt zwischen waffenstarrenden Armeen. „Der nächste Krieg wird ein riesiger Grabenkrieg. Der Spaten wird für den Soldaten so wichtig wie sein Gewehr“, so Bloch. Davon wollten die Generäle nichts hören.

Das Volk war klüger. Die Kriegsbegeisterung im August 1914 hielt sich in Grenzen. Dass viele das Bild frenetischer Menschenmassen vor Augen haben, liegt daran, dass die Fotografen in den Hauptstädten jubelnde Studenten, Bildungsbürger und Akademiker zeigten. Doch jenseits der Kameras zwischen Bordeaux und Wladiwostock zogen die Bauern und Kleinstädter schweigend an die Front. Sie sahen klarer als Militärs und Professoren, was kam.

Unsichtbare Soldaten

„Die Büchse der Pandora“ ist nach Christopher Clarkes und Herfried Münklers Büchern das dritte ziegelsteinschwere Werk zum Thema – und ganz anders. Clarke blättert in erzählendem Ton die Vorgeschichte bis 1914 auf, Münkler analysiert den Krieg aus deutscher Perspektive. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard versucht kühn eine Universalgeschichte dieses Krieges, der, so seine These, „die totalisierbare Gewalt als Möglichkeit“ für das 20. Jahrhundert etablierte. Dieser Panoramablick reicht von der Waffentechnik bis zum Versailler Vertrag, von der brutalen psychiatrischen Behandlung der „Kriegszitterer“ bis zu Fernwirkungen in China, von Dublin, wo irische Nationalisten gegen die Briten rebellierten, bis zur Krise der Schlachtenmaler, die 1916 nicht mehr wussten, was sie darstellten sollten. „Die Mechanisierung der Kriegstechnik“, so ein deutscher Kunstkritiker, habe den Soldaten unsichtbar gemacht. Es gebe keine Helden mehr, „die sich im Paradeschritt auf den Feind stürzen“. Das Medium, das den industriellen Krieg abbildet, war selbst Teil der Industrialisierung: das Kino. Der Dokumentarfilm „The Battle of Somme“, gezeigt 1916 noch während der Schlacht, ist mit 20 Millionen Zuschauern bis heute immer noch der erfolgreichste britische Film.

Leonhard ordnet das Material teils thematisch, teils chronologisch. Dies ist das Korsett, um die ausufernde Fülle von Fakten, von wechselnden Perspektiven, Schauplätzen, Akteuren eine notdürftige Struktur zu geben. Hier blickt jemand vom Feldherrnhügel auf das gesamte Geschehen. Sieht man die Dinge von dort genauer?

Nicht unbedingt. Zur Frage, ob das wilhelminische Deutschland für den Krieg 1914 zentral verantwortlich war oder zum Geschehen an der Westfront, hat Leonhard nichts Originelles beizutragen. Je ferner vom Bekannten, von Verdun und Marne-Schlacht, desto interessanter liest sich dieses Buch. So rücken die Effekte des Krieges auf die Gesellschaften in den Fokus.

Um genug Waffen produzieren zu können, verwandelten sich kapitalistische Marktgesellschaften in eine Art Kriegssozialismus. Der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt stieg in Deutschland von 1913 bis 1917 um das Sechsfache auf 59 Prozent. Der Krieg pflügte nicht nur die Schlachtfelder um, er formte auch Gesellschaften. Der Staat wurde stärker: Er regulierte die Wirtschaft ,zwang Männer zur Wehrpflicht, bekämpfte mitunter brachial vermutete fünfte Kolonnen des Feindes im eigenen Land. Nicht nur in Deutschland gab es einen Burgfrieden zwischen Staat und Arbeiterbewegung: Die Gewerkschaften wurden als Tarifpartner anerkannt, dafür stützten sie den Krieg.

Gerade Minderheiten und Ausgegrenzte hofften, dass ihre Loyalität gegenüber der Nation am Ende mit mehr Rechten bezahlt würde. Das galt für deutsche Arbeiter, englische Feministinnen und farbige US-Soldaten. Und dieser Mechanismus wirkte auch global: Zwei Millionen Afrikaner und eineinhalb Millionen Inder arbeiteten, so Leonhard, in der Kriegsproduktion, Zehntausende kämpften in Europa und an Fronten in den Kolonien. Mit den erhofften neuen Rechten wurde es selten etwas. Doch der globale Krieg beflügelte das Selbstbewusstsein der Kolonisierten. Der britischen Afrikaforscher Harry Johnston urteilte 1919, dass dieser Krieg „ den Beginn einer Revolte gegen die Überlegenheit des weißen Mannes“ markierte. So trug der Erste Weltkrieg zaghaft den Keim der Entkolonialisierung in sich.

Wie ein zwiespältiger Katalysator wirkte das Sendungsbewusstsein der USA, die mit der wohlklingenden Parole, für die „Selbstbestimmung der Völker“ zu sorgen, 1917 in den Krieg zogen und damit Deutschlands Niederlage besiegelten. Die USA, so deren Präsident Woodrow Wilson, verfolgten dabei keine „eigenützigen Zielen“. „Wir sind“, so Wilson treuherzig, „nur einer der Kämpfer für die Rechte der Menschheit.“ Es war allerdings eine nützliche Selbstlosigkeit. Nach 1918 war Großbritannien in Washington hoch verschuldet, das britische Empire im Niedergang und die USA waren zur Weltmacht aufgestiegen.

Das Versprechen, das Selbstbestimungsrecht der Völker zu garantieren, war zwischen Triest und dem Kaukasus eine komplizierte und äußerst explosive Parole. Wilson stellte im Rückblick resigniert fest, er habe ja nicht geahnt wie viele „Nationalitäten zu uns kommen und wie viele Millionen hofften“. Beim Versailler Friedensvertrag blieb von dem hochfahrenden Universalismus der USA nur Stückwerk.

So war der US-Kriegseintritt 1917 trotz des militärischen Erfolges auch das erste Fiasko des Menschenrechts- und Befreiungsbellizismus. Man findet in Wilsons Krieg Elemente, die auch bei George W. Bushs Überfall auf den Irak wiederkehrten. Hier wie dort sahen sich die USA als selbstlose Befreier und verantwortungsbewusste Ordnungsmacht, die mit Feuerkraft und Demokratieeuphorie ins Feld zogen. Und mit wenig Ahnung von den Ländern, die sie befreien wollten.

Wilsons Moralkrieg hatte zudem Kollateralwirkungen in den Kolonien. Im britisch besetzten Indien hörte Gandhi Wilsons Lob des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit spitzen Ohren. Ho Chi Minh reiste 1919 nach Versailles, um, auf Wilson hoffend, mehr Autonomierechte für die französische Kolonie Vietnam zu erreichen. Das war vergeblich – Ho Chi Minh wandte sich den Kommunisten zu.

Kurzum: Der Erste Weltkrieg hat in den Metropolen die Staaten gestärkt und in der Peripherie Befreiungshoffnungen geweckt. Geschaffen hat der Krieg diese Phänomen nicht, aber beschleunigt.

Schade ist, dass Leonhard die Arbeit der Zuspitzung meist scheut, von aktuellen Bezügen ganz zu schweigen. Thesen werden nur in Schachtelsätzen und fünffach vertäut angeboten. Gewiss sind Historiker nicht dem Schönen, sondern der analytischen Durchdringung verpflichtet. Aber Sprache ist mehr als ein Medium, um Informationen zu verbreiten. Dass man mit Worten spielen und Dinge nah und fern rücken kann, das ist in diesem Buch schmerzlich abwesend.

Das schiere Wissen, der generalistische Überblick sind beeindruckend, die Skizze der globalen Effekte (die auch Oliver Janz in seinem Buch „Der große Krieg“ skizziert hat) ist einleuchtend. Doch der Text ist zu breit, zu flach, zu lang. Die „Büchse der Pandora“ hat zu viel von einer Enzyklopädie und von einer Dramaturgie der Reihung. Mitunter kommen einem Charlotte von Steins Zeilen an Goethe in den Sinn: „Entschuldige meinen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit.“

So bleichen die Farben aus, das Bild wird graustichig. Ist das der Preis, den es kostet, wenn man alles erzählen will, von der Soldatenrekrutierung im Senegal bis zur russischen Innenpolitik 1916? Nicht unbedingt. Dass man Universalgeschichte auch leichthändig erzählen kann, hat Jürgen Osterhammel in dem 19.-Jahrhundert-Gemälde „Die Verwandlung der Welt“ vorgeführt. „Die Büchse der Pandora“ ist hingegen meistenteils ein Wimmelbild. Es ist viel darauf zu sehen. Wenig ist richtig scharfgestellt.

■ Jörn Leonhard: „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“. C. H. Beck Verlag, München 2014, 1.157 Seiten, 38 Euro