LESERINNENBRIEFE
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Integrationsverhinderung

■ betr.: „Migrationslehrer bestehen auf Deutsch“, taz vom 22. 9. 10

Alle, wirklich alle, reden jetzt von Integration. Dabei wird oft die Meinung vertreten, dass sich viele Migranten gar nicht integrieren wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir Deutschlehrer/innen der Integrationskurse erleben tagtäglich, wie sehr sich die Teilnehmer anstrengen, unsere Sprache zu lernen und sich hier einzufinden. Ein halbes Jahr lang kommen sie jeden Tag für fünf Stunden zum Unterricht, üben zu Hause und stimmen ihr Familienleben darauf ab.

Leider müssen wir derzeit erfahren, dass dem Gros der Migranten der Zugang zu den Kursen erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird. Eine neue Verwaltungsvorschrift des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge führt de facto dazu, dass gut 50 Prozent der Interessierten abgeblockt werden. Das betrifft vor allem Migranten, die schon länger in Deutschland leben – ein schwerer Schlag gegen die zu Recht geforderte „nachholende Integration“.

CHRISTIANE TOPP, ADINA SZABÓ, HANS-JÖRG OSTERMAYER

STEPHANIE BALIS, TANJA WERNER, NICOLE FEIGE

SONJA SCHUMACHER, Lehrkräfte in Integrationskursen

des Bildungsträgers InFö e. V., Tübingen

Nothilfeexzess

■ betr.: Berichterstattung über den Amoklauf von Lörrach

Warum befasst sich niemand damit, dass die Amokläuferin von Lörrach mit 17 (!) Schüssen von der Polizei niedergestreckt wurde?! Der Baden-Württemberger Innenminister lobt die Polizei und ihr neues Einsatzkonzept, alle Welt spekuliert über die Hintergründe der Beziehungstat und darüber, ob auch Frauen amokfähig sind. Über die Waffengesetze wird diskutiert, aber warum ist die Frau überhaupt erschossen worden? Wäre es nicht möglich gewesen, sie anders kampfunfähig zu machen? Und gleich 17 Schüsse! Das ist, juristisch gesehen, ein klarer Notwehr- bzw. Nothilfeexzess.

Die Amokläuferin von Lörrach war kein tollwütiger Hund, sondern ein Mensch. Täter/Täterin muss weg – das ist ein Reflex aus der Mottenkiste. Vor vierzig Jahren wurde die Polizei wegen solcher Verhaltensmuster pauschal unter Faschismusverdacht gestellt.

Vielleicht gibt es ja Gründe für die Schüsse zwei bis siebzehn. Die möchte ich aber wenigstens erfahren, bevor mir erzählt wird, dass die Polizisten psychologisch betreut werden. Kann hier mal irgendjemand den Rechtsstaat hochhalten? INGO HELM, Hamburg

Verunsicherte Mittelschicht

■ betr.: „Die neuen Revolutionäre“, taz vom 24. 10. 10

Die Hamburger Initiative gegen die Primarschule kann unmöglich in einem Atemzug mit den Initiativen gegen Stuttgart 21 oder gegen die Atomkraft genannt werden. Mit dieser Initiative ist es der dortigen Oberschicht unter anderem mit Hilfe der Bild-Zeitung gelungen, die durch Abstiegsängste verunsicherte Mittelschicht auf ihre Seite zu ziehen. Walter Scheuerl fällt auch aus anderen Gründen aus der Reihe der anderen Köpfe der bürgerlichen Proteste. Scheuerl ist ein Rechtsanwalt, an den sich ein Unternehmen der Lebensmittelindustrie wendet, wenn es mit Gammelfleischvorwürfen konfrontiert ist; er vertritt einen Massentierhalter, wenn der Ärger mit Tierschützern hat; ebenso die Billigkette KiK bei Medienberichten über unzumutbare Arbeitsbedingungen. Die Hinterleute seiner Kampagne wusste er geschickt zu verschleiern. Die Vorschrift, die Geldgeber seiner Initiative zu veröffentlichen, umging er durch Zwischenschaltung eines Fördervereins (taz vom 16. 7. 10). WALTER HEIDENFELS, Hamburg

Herrenmenscheninitiative

■ betr.: „Die neuen Revolutionäre“, taz vom 24. 10. 10“

Der taz ist ein Reportage-GAU gelungen. Auf der großen „Schwerpunkt“-Doppelseite „Bürgeraufstand“ verzapft Peter Unfried den Größtmöglichen Anzunehmenden Unfug. Bürger gegen einen sich privilegierenden und von der Öffentlichkeit abschottenden Politikbetrieb – das ist für ihn ein Spektrum von den schwäbischen Massenaktionen gegen Stuttgart 21 über die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg bis hin zur „Volksinitiative“ gegen die Primarschule um den Hamburger Anwalt Scheuerl.

Es ist ja richtig, mit Oskar Negt das Wesen der Demokratie in der Öffentlichkeit des Politischen zu sehen und Bürgerinitiativen zu unterstützen, die Öffentlichkeit herstellen und teure, nur Geschäfts- und Minderheiteninteressen bedienende Projekte bekämpfen. Aber die Initiative des Dr. Walter Scheuerl ist eine in den Hamburger Parkvillenvierteln beheimatete finanzstarke Herrenmenscheninitiative, bestens vernetzt mit Wirtschaftsanwälten und Unternehmerverbänden. Ihr Erfolg beim Hamburger Volksentscheid vom 18. Juli zeugt zwar von breitem Misstrauen vieler Wahlberechtigter gegen Projekte des Politikbetriebs, doch er krönt keine Massenbewegung Engagierter auf Straßen und Plätzen. Scheuerls Vorlage gewann vor allem, weil die Vorlage des Hamburger Parlaments von zu wenigen unterstützt wurde. Es hat da kein „Unten“ gegen ein „Oben“ gefochten, sondern ein „Oben“ gegen ein anderes „Oben“, gegen eine Schulbehörde, die ein der Öffentlichkeit zu wenig vermitteltes reformpädagogisches Projekt auf den Weg gebracht hatte.

Noch etwas zur Recherche: Reicht es eigentlich, wenn man Bürgerbewegungen auf der Spur ist, sich in den Räumen der Kanzlei Graf von Westphalen in teuerster Hamburger Bürolage Ergüsse über die Dienstwagengeilheit der Grünen und ähnliches Zeug anzuhören, aber nicht die mindesten Erkundungen einzuziehen, für und gegen welche Interessen der Verbreiter solcher Weisheiten seine juristische Kompetenz einsetzt? JÜRGEN KASISKE, Hamburg