Fremd sind sie sich selber

Ansteckend: Die „Black Hole“-Comics von Charles Burns liegen nun vollständig auf Deutsch vor. Schillernd zwischen einer Ästhetik des Grässlichen und des Schönen, mit vergiftetem Happy End

VON JAN-FREDERIK BANDEL

Computerexperten, Mediziner und biologische Forschungszentren rüsten gegen sie. In den Gerüchteküchen der neuen Kriege und Terrorismen gelten sie seit Jahrzehnten als nächstes großes Ding auf der Tödlichkeitsskala. Thriller, Krimis, Science-Fiction sind ohne sie kaum noch denkbar. Viren und Epidemien gehören zweifellos zu den wichtigsten Metaphern und Phantasmen unserer Zeit.

Sie sind längst zu einem „Kollektivsymbol“ geworden, wie die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Weingart es nennt. In ihrem Buch „Ansteckende Wörter“ hat sie das wohl bekannteste Beispiel dieser epidemischen Symbolik untersucht: die Immunschwächekrankheit Aids, die Anfang der Achtziger so schockhaft ausbrach, dass sie eine wahre „Bedeutungsepidemie“ auslöste: ansteckende Gerüchte, Theorien und Desinformationen der wildesten Art.

Auch der US-Comiczeichner Charles Burns hat sein dunkles Epos „Black Hole“ auf dem kollektiven Phantasma der Ansteckung aufgebaut: Erzählt wird in den sechs Bänden, in denen der Comicroman jetzt auch auf Deutsch komplett vorliegt, von einer merkwürdigen Epidemie, die immer mehr Teenager in den Suburbs von Seattle befällt. Bei den Infizierten bilden sich Beulen, Verwachsungen, Schwellungen, aber auch ein zweiter Mund, der auf der Brust sitzt, Schwimmhäute usw. Einige der Jugendlichen weisen nur unscheinbare Mutationen auf, verdeckt durch die Kleidung, andere sehen aus, als wären sie aus alten Horrorcomics oder den entsetzlichen Bildstrecken medizinischer Nachschlagewerke entsprungen.

Die Übertragung des Virus durch Geschlechtsverkehr hat viele Leser verlockt, Burns’ Erzählung als Allegorie jugendlicher Sexualität in Zeiten von Aids zu lesen. Doch Burns’ „Black Hole“ lässt sich darauf so wenig reduzieren wie auf eine psychologische Studie zur Stigmatisierung, zum Außenseitertum. Das Verhalten der infizierten Jugendlichen scheint eher befremdlich: Sie ziehen sich fast ohne Zögern zurück, versuchen nicht ernstlich, ihre Krankheit zu verbergen oder gar zu kurieren, sondern bilden im Wald kleine, armselige Kolonien. Die Bilder der Ansteckung, der Epidemie vermischen sich mit solchen der Pubertät: Es geht um die Veränderungen des Körpers, um all die brutalen Umbau- und Entfremdungsvorgänge, die man als Heranwachsender durchmacht.

Tatsächlich ist „Black Hole“ auch eine Coming-of-age-Geschichte, eine Highschool-Story mit den genreüblich schwierigen Paarbildungsstrategien, mit pathetischen Liebesschwüren, Partys und zirkulierenden Joints. Gleichzeitig ist es ein Thriller, in dem immer wieder Teile zerfetzter Körper erscheinen, dazu Zeichen, unheimliche Botschaften eines Mörders, bis schließlich fast die gesamte Gruppe der Kranken einer Mordserie zum Opfer fällt. Und schließlich ist es ein Horrorschocker, eine Albtraumerzählung, ein zeichnerisch-erzählerischer Versuch über Drogenerfahrungen, über fürchterliche und wunderbare LSD-Trips.

Eröffnet wird das Epos durch eine seltsame Vision, die ihm auch den Titel gibt: Beim Aufschneiden eines Froschkadavers im Biologieunterricht fällt die Hauptfigur plötzlich in eine Art Trance, in ein „Schwarzes Loch“, in dem Fragmente des künftigen Geschehens aufblitzen und durcheinandergewirbelt werden. Unwillkürliche Erinnerungen, Träume, Visionen, Déjà-vu-Erlebnisse strukturieren den Comic und geben ihm manchmal einen komisch esoterischen Beigeschmack, der sich aufs Erstaunlichste mit den Pulp- und Suspense-Elementen vermengt. Klar ist übrigens auch, was Burns nicht versucht: eine realistische, auch mit realistischen Herleitungen und Konsequenzen ausgestattete Vorstellung einer neuen Krankheit zu entwickeln und zu erzählen.

Deutungen, die all diese Bausteine logisch aufreihen und addieren, sollte man sich zumindest vom Zeichner nicht versprechen: „Ich hasse Erklärungen“, wehrt Burns ab, betont zugleich aber, dass die verschiedenen gegenläufigen Elemente ein gemeinsames Thema haben: eben die Pubertät, deren Fremdheiten, Erklärungslosigkeiten und Monstrositäten nicht verharmlost, sondern ins Groteske überzeichnet werden. Die Unsicherheiten, Fremdheiten und Befangenheiten beim ersten Sex etwa zeigt Burns, wenn die Frau nun auch noch ständig mit ihrem Eidechsenschwanz wackelt, der schließlich im Eifer des Gefechts abfällt. Nun, der wächst wieder nach.

Ähnlich vielschichtig sind seine Zeichnungen: Sie bedienen sich in der Tradition des amerikanischen Horrorcomics genauso wie beim Jugendstil mit seinen Ophelien und Schlinggewächsen, bei klassischen Holzschnitten und Schallplatten-Artworks der Siebziger, ohne dass der Eindruck einer Collage-Ästhetik entstünde: Die verschiedenen Zitate und Bezüge fließen zusammen in einem souverän durchstilisierten, ausgearbeiteten Schwarz-Weiß-Stil, schillernd zwischen einer Ästhetik des Grässlichen und des Schönen.

Wer das Erscheinen der Bände von 1995 bis 2003 (in der Übersetzung von 1997 bis 2006) verfolgt hat, wird über den Schluss des Romanepos vielleicht staunen. Zu den zitierten Mustern der Erzählung tritt nun auch noch das des Entwicklungsromans. Die Welt, die – durchaus poetisch – aus den Fugen war, beginnt sich wieder zu ordnen: Man kann sich ja einen Job suchen und eine Wohnung mieten. Oder zurück nach Hause, die Eltern freuen sich bestimmt. Der Comic endet mit dem Versprechen der Versöhnung, der Ausheilung dieser Krankheit des Fremdwerdens. Am Schluss also beginnt der Albtraum erst wirklich: „Ein paar Monate später war ich ganz gesund und hab mit all den Scheißnormalos rumgehangen wie früher.“

Charles Burns: „Black Hole 1–6“. Reprodukt 1997–2006, sechs Bände im Schuber, 50 Euro