Klecksen wie die Kinder

Am liebsten mag er modellieren, malen, Farben schütten: Rote und grüne Farbteppiche hat der weißrussische Künstler Leon Tarasewicz zwischen die Säulen der Lübecker Kunsthalle gelegt. Dass die im Januar wieder entfernt werden, stört ihn nicht. Und über Konservatismus-Vorwürfe lächelt er nur

von Petra Schellen

Der Boden sieht aus wie eine Blumenwiese. Oder wie ein von Jackson Pollock inspirierter Farbteppich, kraftvoll auf den Boden der Lübecker Kunsthalle St. Annen geschüttet. Genau genommen zwischen die geweißelten Säulen jener gotischen Klosterkirche, auf deren Ruinen die Kunsthalle vor einigen Jahren errichtet wurde.

Der weißrussische Künstler Leon Tarasewicz hat mit seiner Farb-Installation einen Tabubruch begangen. Nicht mehr pragmatisch-bleigrau ist der Boden unter den Säulen, nicht mehr ernst an die Vergangenheit gemahnend, sondern fröhlich bunt. Bunt, warum? „Ich bin mit der Orthodoxie aufgewachsen. Und in meiner Kirche im weißrussischen Grodek war alles voller Farben“, sagt der 1957 bei Białystok in Ostpolen geborene Weißrusse, der sich zur 200.000 Menschen starken weißrussischen Minderheit in Polen zählt.

Ein bisschen mürrisch wirkt er, als er mit Galeristin und Besuchern am Cafétisch sitzt. Und fast scheint es, als wolle er – im Jahr 2001 einziger Vertreter Polens auf der Venezianer Biennale – nicht recht reden über seine Bodeninstallationen und Gemälde, die bis Ende Januar in Lübeck gezeigt werden.

Doch als die andern weg sind, taut er auf. Ist – außer Hörweite der freundlichen Galeristin – kein Objekt mehr. Kein zu Vermarktender, der irgendwem nach den Augen schauen muss. Ganz kindlich freut er sich jetzt an seinem pastos aufgetragenen Farbteppich. Wieselt treppauf, treppab, um alles vorzuführen. „Das ist das erste Mal, dass ich Stufe für Stufe die Farben herabtropfen konnte“, freut er sich. Eine starke Erinnerung an die Mal-Spiele seiner Kindheit.

Grün hat er die ehemalige Krypta im Untergeschoss, rot den Eingang und die Apsis grundiert. Rote Punkte draufgekleckst. Und wenn man Leon Tarasewicz nach der Bedeutung der Farben fragt, schmunzelt er nur. „Ich bin da nicht festgelegt. Hierin unterscheiden sich Ost- und Westkunst. Der Westen will immer Deutungen. Im Osten darf manches vage bleiben.“

Und Tarasewicz, dessen Kindheit von der so klar definierten Ikonenmalerei geprägt wurde? Lässt sich irgendwann dann doch ein paar Erklärungen abringen. Nun ja, Grün stehe für Hoffnung und Wachstum und müsse also ins Untergeschoss, den Ur-Grund der Kirche, murmelt er. Und das Rot – Blut der Märtyrer, Liebes- und Christenheits-Siegessymbol? „Erinnert unter anderem an das Schicksal dieser Kirche, die im Jahr 1843 abgebrannt ist.“

Begehbare Gemälde schafft Tarasewicz seit den Achtzigern. Viel beachtete Farbstreifen hatte er 2001 auf den Boden des polnischen Pavillons der Biennale gemalt. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass Polen, das seit 1994 ein Minderheitengesetz hat, ausgerechnet einen Weißrussen nach Venedig schickte. „In meiner Region mischen sich verschiedene Völker“, sagt Tarasewicz.

Litauer, Weißrussen und Polen bewohnen die von riesigen Naturparks geprägte Region Białystok, die 1945 von Weißrussland nach Polen verlegt wurde. Doch die neue Grenze hat bloß eine ohnehin ethnisch gemischte Region geteilt – wobei speziell die Weißrussen als sehr bodenständig gelten. Und das ist Leon Tarasewicz zweifellos. Seit 1984 lebt er – nach abgeschlossenem Malerei-Studium in Warschau – wieder in Dorf Stacja Waliły, in dem er geboren wurde.

Was reizt ihn an der Peripherie? „Ich bin dort geboren, und dort gehöre ich eben hin“, sagt er schlicht. „Nur wenige Menschen können sich diesen Luxus erlauben – die meisten müssen die Heimat wegen ihres Jobs verlassen. Ich für meinen Teil bin mit dieser Entscheidung sehr zufrieden. Außerdem fahre ich ohnehin jede Woche die 200 Kilometer nach Warschau, wo ich einen Lehrauftrag habe. So bringe ich zwei Teile meines Lebens zusammen.“

Natürlich, in Warschau könne er nicht über sein Dorf reden und im Dorf nicht über die Kunst. Aber die Kombination gefällt ihm – auch, weil er an der urwüchsigen Landschaft seiner Kindheit hängt. Alle seine Gemälde sind von der Natur inspiriert, anfangs schwarzweiß, später immer farbiger. Wie Blätter oder Baumstämme sehen etliche seiner immer abstrakteren Bilder aus. Als „Kirche ohne Wände“ hat er die Landschaft einmal bezeichnet. „Aber regelrecht kopieren werde ich die Natur nie“, sagt er mit einem Hauch Eigensinn. Er seufzt ein bisschen, als er auf die schwarzweißen Bilder seiner Anfangsjahre schaut, die im Obergeschoss der Lübecker Ausstellung hängen. Eigentlich hat er sie nicht zeigen wollen, die frühen Bilder, die so wenig gemeinsam haben mit der Farbexplosion seiner späteren Arbeiten. Und ein bisschen glaubt er sich rechtfertigen zu müssen für die vielen realistischen Formen. „Diese Silhouetten hier sind natürlich inspiriert von den Felsen im US-Staat New Mexico, wo ich Ende der Achtziger eine Zeit lang gelebt habe“, sagt er und zeigt auf eine blaurote, kaum abstrahierte Felslandschaft. „Außerdem konnte ich dort erstmals reines Rot und Blau kaufen. Das gab es damals in Polen nicht. Kein Wunder also, dass ich in New Mexico rotblaue Bilder gemalt habe.“

Er lächelt versonnen über diese merkwürdige Kombination aus künstlerischer und materieller Bedürftigkeit und lässt sich gern verleiten, über Lichter und Farben seiner Kindheit zu sprechen. „Bei Sonnenuntergang Grün und Rot nebeneinander zu betrachten, war eine reine Offenbarung“, schwärmt er. „Es ist wie eine Melodie. Zunächst brilliert lange das Rot, und das Grün wirkt wie ein Schatten. Ist die Sonne weg, fängt das Grün an zu glühen.“

Ein bisschen glüht er auch, wenn er von seiner Heimat spricht – wobei es ihm nicht um das konkrete Dorf geht, sondern um die Region. Verwurzelung ist wichtig für ihn; kein Zufall also, dass er in Lübeck und Venedig ausgerechnet Böden gestaltete. „Nein, nein“, sagt er dann schnell, er habe nicht nur Böden im Repertoire, habe auch Wände, Tore und Decken bemalt. Aber Böden scheinen ihm trotz allem am liebsten zu sein – etwas, auf dem man laufen und das man anfassen kann. „Es ist mir wichtig, dass die Menschen meine Bodengemälde betreten“, sagt er. Und es tut ihm auch nicht leid, dass die nach Ausstellungsende wieder entfernt werden. „Ich möchte“ – und jetzt klingt er kindlich und bescheiden zugleich – „den Menschen Anregungen geben. So, dass jeder etwas mitnehmen kann. Und dazu gehört auch die Wahrnehmung der dick aufgetragenen Farben unter den Füßen.“

Als Lehrer, als Guru gar sieht er sich nicht – er, der sich so unauffällig kleidet, als wolle er unter einer Tarnkappe verschwinden. Sein hintergründiges Lächeln bemerkt man erst auf den zweiten Blick. Aber ein bisschen wichtig ist ihm die Kommunikation mit dem Publikum dann doch. „Wenn ein Werk eine Zeit lang gewirkt hat, kann das Original getrost weggeworfen werden. Die Idee wirkt weiter“, beteuert er. Seine eigenen frühen Bilder also auch? Einfach in den Müll? Je nun, da zögert er ein bisschen und schaut unruhig in die Bilder-Runde. Und verheddert sich dann in Auslassungen übers Bewahren und Dokumentieren. So ganz trennen möchte er sich wohl doch nicht von seinen Werken. Und ein Foto wird schon bleiben von der Installation in Lübeck – einem Werk, das in puncto Vergänglichkeit problemlos mit Video- und Computerkunst konkurrieren kann – Medien, die er ganz und gar nicht bedient.

Mancher hat ihm das angekreidet. Erbost es ihn, als konservativ zu gelten? Tarasewicz kichert. „Wissen Sie, es hat da sehr merkwürdige Dinge gegeben. Diejenigen, die noch vor Jahren das Video priesen und vom Ende der Malerei sprachen, loben jetzt die Malerei und stellen sie selbst aus! Dieser Sinneswandel kam dann doch recht plötzlich.“

Was ihn persönlich betrifft, so macht er allerdings lieber Nägel mit Köpfen. „Ich muss etwas mit meinen Händen tun, sonst bin ich nicht zufrieden. Schnitzen, modellieren, malen, Farbe auf Böden schütten. Ich schätze Videokunst durchaus, und einige meiner Schüler werden wohl in diese Richtung gehen. Und ich selbst verweigere mich all dem nicht deshalb, weil ich es ablehnte. Sondern, weil ich es ganz einfach nicht brauche.“

Spricht’s, steht auf und geht freundlich von dannen. Mitten in den geweißelten gotischen Säulenwald hinein.