die unparteiischen (9): Haci-Halil Uslucan, Psychologe und Migrationsforscher
: Wer ist in Berlin eigentlich integrationsresistent?

Am Sonntag wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik jedoch ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

„Über 40 Jahre sind wir schon hier, und die Deutschen haben immer noch nicht richtig Türkisch gelernt.“ Diese Provokation des Komikers Sinasi Dikmen in einer Stadt mit annähernd 200.000 Türken und Türkinnen spielt mit der Erkenntnis, dass die Berliner Politik den Integrationsprozess zu lange desinteressiert laufen ließ. Dies wurde zwar in den letzten Jahren als Manko thematisiert. Neuerdings jedoch gewinnen populistische Stimmen wieder die Oberhand. Man wirft den MigrantInnen – vor allem wenn sie aus der Türkei und dem arabischen Raum kommen – vor, dass sie es in den 40 Jahren nicht weit gebracht hätten. Ja, in Berlin sei alles sogar wieder schlimmer geworden: Integrationsverweigerung, kultureller Rückzug und Re-Islamisierung.

Diese Verallgemeinerungen gehen an der Realität vorbei. Es gibt nicht das eine, die Integrationsbereitschaft der Migranten und Migrantinnen, ohne das andere, die Integrationsoffenheit der Mehrheitsgesellschaft. Denn im kulturpsychologischen Verständnis bedeutet Integration aus der Sicht der Migranten eine Orientierung, die sowohl die Bezüge zur Herkunftskultur als auch zur Mehrheitsgesellschaft wertschätzt. Diese ist jedoch nicht denkbar, ohne dass berücksichtigt wird, wie sich die Mehrheitsgesellschaft verhält.

Die persönliche Integrationsbereitschaft ist abhängig davon, ob jemand spürt, dass er willkommen ist, oder ob er sich im Alltag zurückgewiesen fühlt. Die öffentlichen Signale, die die Mehrheitsgesellschaft setzt, müssen deshalb eindeutig sein: Sie muss die kulturellen Differenzen akzeptieren und darf keine Leitkulturdebatte anzetteln. Gleichzeitig muss von den Migranten Respekt und die Einhaltung elementarer sozialer Normen eingefordert werden. Nur so kann die soziale Integration gelingen.

Die Politik muss die Weichen stellen für die strukturelle Integration auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Sie muss jedoch auch Vorbild sein, wenn es um die soziale Integration geht. Davon ist in Berlin wenig zu spüren. Politisch ist lediglich die Mehrheitsgesellschaft präsentiert. Wen sie repräsentiert außer sich, ist offen.

Die Migrationsforschung belegt, dass Integration in der Regel segmentiert abläuft. In einigen Bereichen sind Migranten und Migrantinnen relativ gut integriert, in anderen verbleiben sie eher unter sich. Ein türkischstämmiger Arbeiter etwa kann für Tariflöhne streiken, seine Feierabende aber ausschließlich in den türkischen Cafés verbringen. Für das seelische Wohlbefinden des Einzelnen kann es sogar ganz hilfreich sein, sich gerade zu Beginn einer Migration unter Landsleuten aufzuhalten, vertrauten Stimmen und Sprachen zu lauschen, um Sicherheit zu gewinnen. Das ist eine ganz natürliche, rationale Handlung, gleichwohl sie politische Integrationsvorstellungen konterkariert. Aber nicht nur Migranten, alle Menschen orientieren sich eben in erster Linie daran, was ihnen persönlich guttut, und nicht daran, was den Wünschen der Politik genehm ist.

Dies wirft im Grunde die ethische Frage auf, wer im Integrationsprozess, vor allem im sozialen Integrationsprozess, eigentlich den ersten Schritt tun sollte. Ist hier die dominante, machtstärkere Mehrheit gefragt, die durch einige Zugeständnisse recht wenig zu verlieren hat, oder die eindeutig in ihren Ressourcen unterlegene Minderheit? Wer auf diese Frage eine Antwort gibt, sollte wissen: Erst wenn sich MigrantInnen sicher fühlen, wenn sie merken, dass sie Vertrauen haben können, und wenn sich eine Politik der Anerkennung auf Augenhöhe etabliert hat, können sie von der starren Fixierung auf das Eigene abrücken, sich in die gemeinsamen Belange dieser Gesellschaft einbringen und sich sozial integrieren. Dann wird auch die Forderung nach mehr Toleranz obsolet. HACI-HALIL USLUCAN

Morgen: Gehört die Hauptschule zugemacht? Es antwortet: Joachim Radatz, Erziehungswissenschaftler