Urbanisierung vor der Haustür

VERSCHOBENE WAHRNEHMUNG Die Brasilianerin Renata Lucas schafft mit einer pfiffigen Intervention neue Blicke auf die Kunst-Werke

Der verwirrende Anblick der akkurat gegeneinander versetzten Gehwegplatten vor den Kunst-Werken ist ein geglückter Coup

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Wer zurzeit die große Ausstellungshalle der KW betritt, mag sich wundern: Es scheint nichts zu sehen zu geben. Nur bei genauem Hinschauen wird auf dem Betonboden der leeren Halle der Umriss eines beträchtlichen Halbkreises erkennbar.

Wer Renata Lucas’ Arbeiten kennt, weiß, dass sie sich durch subtile und minimale Präsentationen auszeichnen. Auch in den KW hat die diesjährige Preisträgerin des Kunstpreises der Schering Stiftung ein Objekt entwickelt, dessen Zauber erweckt werden muss. Wer sich auf den Halbkreis stellt und mit den Händen stark genug gegen die weiße Wand drückt, merkt, wie er plötzlich Teil eines dramatischen Schauspiels wird. Der Boden unter den eigenen Füßen beginnt sich zu drehen, und es scheint, als wenn nun auch die Gebäuderückwand verschoben würde. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass sich während der Rotation überraschenderweise ein Stück Grünfläche in den Ausstellungsraum hineinschiebt. Auf der bewegten Scheibe durchkreuzen sich der Außen- und der Innenraum für einen Moment in Form zweier unterschiedlich gearteter Halbkreise.

Temporärer Hinterhof

Wer die letzte Berlin Biennale gesehen hat, weiß um die kleine Brachfläche, die sich hinter der KW-Halle befindet. Petrit Halilaj ließ dort einen temporären Hühnerhof entstehen. Für einen Augenblick holt Lucas’ Bodenkarussell das Ödland nun ins Rampenlicht des White Cube, während eine Portion des Kunstraums dafür Platz machen muss.

Auch der andere Part von Lucas’ zweiteiliger Installation, die sich „Kunst-Werke“, 2010 (Cabeça e cauda de cavalo, Kopf und Schweif eines Pferdes), nennt, bringt den gewohnten Blick auf die KW ins Wanken. Im Eingangsbereich hat die Künstlerin den Gehweg, den Pfeil im Durchgang und die Schwelle zum Innenhof mit einem kreisförmigen Schnitt eingefasst und das gesamte Terrain innerhalb dieses Kreises so verschoben, als wäre es um 7,5 Grad gegen den Uhrzeigersinn verstellt worden.

Plötzlich fällt auf, dass das denkmalgeschützte Vorderhaus aus dem 18. Jahrhundert und der Gehweg eine andere Ausrichtung haben als der Hof zur Margarinefabrik im hinteren Quergebäude, in dem nun die Ausstellungsräume liegen. Lucas’ Eingriff verrückt die unterschiedlichen historischen Schichten direkt ineinander.

Der verwirrende Anblick der akkurat gegeneinander versetzten Gehwegplatten vor den KW ist ein geglückter Coup. Er lässt einen schmunzelnd fragen, ob eine solche Gradwanderung auf dem Berliner Trottoir erlaubt ist. So etwas möglich zu machen ist Teil dessen, was zum künstlerischen Entstehungsprozess von Lucas’ Werken zählt. Allerdings gelingt es ihr nicht immer, ihre Wunschszenarien auch in die Realität umzusetzen. Eigentlich wollte sie auf dem Innenhof der KW Dan Grahams berühmten Cafépavillon mit einer verspiegelten Drehtür versehen und einen kaleidoskopartigen Blick auf die dahinter liegenden Gebäude und die KW erzeugen. Wie eine reversible Grenze sollte dieser Drehpunkt funktionieren und so neue Verbindungen produzieren. Doch die Nachbarn verweigerten die Genehmigung.

Gebauter Raum

Wie aber kommt es dazu, dass die Künstlerin immer wieder stadträumliche, städtebauliche und architektonische Fragen aufwirft und mit unserer Wahrnehmung an solchen Schnittstellen spielt? Die Frage, woher ihr besonderes Interesse am gebauten Raum mit seinen sozialen und historischen Strukturen stammt, kann Lucas nicht auf Anhieb beantworten. Stattdessen erzählt sie, wie sie in Ribeirão Preto, einer Stadt im Bundesstaat São Paulo, aufgewachsen ist.

„Ich wurde in einer sehr neuen Wohnregion groß, in einer Gegend mit erschwinglichen Häusern am Rande der Stadt. Um mein Haus herum gab es lange Zeit keinen Zaun, bis die Urbanisierung eines Tages vor meiner Haustür angekommen war.“ Lucas erzählt, sie habe zusehen können, wie die Welt in beeindruckender Weise zu ihr gekommen sei. Zugleich empfindet sie völlig verbaute und überprivatisierte Städte wie São Paulo, wo sie heute lebt, aber auch als ein Problem. Daher geht es ihr nicht nur darum, die gebaute Umwelt durch künstlerische Prozesse und Formen zu analysieren, sondern immer auch darum, sie ein Stück weit zu demontieren, steckt darin doch ihre ursprüngliche Erfahrung räumlicher Freiheit, die sie weiterhin hochhält.

■ „Kunst-Werke, 2010“, Renata Lucas, KW Institute for Contemporary Art, Auguststr. 69, bis 7. 11.