Verrat mir dein Geheimnis!

„Ich habe heimlich die Pille abgesetzt.“ Dieses Geheimnis einer Passantin, das sich später noch erklären wird, ist ein einzelner kurzer Satz. Aber auch vier Laptops können zu einem brisanten Geheimnis werden, wenn sich darauf Informationen befinden, die der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA Internetnutzer weltweit ausspioniert.

In unserem Zeitalter werden wir gezwungen, unsere Geheimnisse zu verraten. Mit jedem Besuch im Internet, mit jedem Aufrufen unserer Facebook-Seite, mit jedem Einkauf bei Amazon offenbaren wir uns – nicht nur staatlichen Geheimdiensten, sondern auch privatwirtschaftlichen Unternehmen; manchmal von uns unbewusst, manchmal bewusst.

Und je nach Perspektive ist jedes Geheimnis relevant: für den BND-Mitarbeiter, der nach Terroristen fahndet, oder für den Partner, der besser nichts von unserem Besuch bei Redtube oder Youporn erfährt.

Wir, der 16. taz Panter Workshop, haben uns entschieden, in dieser vierseitigen Beilage nicht über die NSA und den Überwachungsstaat zu schreiben. Uns interessieren hier die kleineren, alltäglichen Geheimnisse. Das hat einerseits pragmatische Gründe, denn wir sind nicht The Guardian und konnten nicht Teile von Snowdens Material auswerten. Wir stellten fest: Geheimnisse sind recht schwierig zu fassen, dabei sind sie allgegenwärtig und machen uns und unsere Persönlichkeit erst aus. Also widmet sich diese Ausgabe dem Kern des Phänomens: uns selbst.

Geheimnisse werden gehütet oder enthüllt. Das war auch die Herangehensweise für die Seiten unserer Beilage. Es ist nicht festgelegt, ob das Verborgene verraten, geteilt oder verschwiegen und bewahrt werden muss. Dafür gibt es auch kein Allerweltsrezept. Es hängt davon ab, wer der Geheimnisträger ist.

Ein Mensch muss Dinge nur für sich behalten dürfen, ein Staat hingegen muss zu Transparenz verpflichtet sein. Ein Staat darf keine Geheimnisse haben.

Der Staat verletzt mit seinen geheimen Spionageaktivitäten nicht nur das Vertrauen, sondern auch die individuellen Freiheits- und Bürgerrechte, sprich die eigenen Grundsätze. Leider hüllt sich der Staat in Schweigen, und wir Menschen enthüllen uns dafür in sozialen Netzwerken, diesen virtuellen FKK-Stränden.

Wie formulierte es der Philosoph Byung-Chul Han, der an der Universität der Künste in Berlin lehrt, so treffend: „Ganz transparent ist nur der entpolitisierte Raum.“

Was ein Geheimnis zu einem Geheimnis macht, ist allerdings gerade die private Sphäre. „Persönliche Gründe“ werden angegeben, wenn man Fehlzeiten nicht näher erklären möchte, mit der Aussage „Das ist mir zu privat“ verweist man einen Gesprächspartner in seine Grenzen. Ist die Privatsphäre das Eigene, das Geheime, also ein unantastbares Gut, das keine weitere Erklärung verlangt? In sozialen Netzwerken gibt es gesonderte Einstellungen, um die Anonymität des Nutzers und seine Geheimnisse zu wahren. Alle Daten, die wir preisgeben, machen uns selbst zum Produkt.

Wie leicht es ist, Informationen über Personen im Internet zu finden, haben wir in einem Selbstversuch getestet. Nicht nur im virtuellen Raum, auch im Zwischenmenschlichen geht es um Geheimnisse. Es gibt Paare, die offene Beziehungen führen, es gibt Betrügereien und es gibt geheime Fetische. Wir sind diesen Spuren nachgegangen. Geheimnisse können beflügeln und belasten; mitunter werden sie zum Beruf gemacht. Als Kind spielen wir damit, denken uns Geheimsprachen aus und flüchten uns in Verstecke. Natürlich, Geheimnisse bleiben nicht immer Teil eines Spiels. Aber sie bleiben.

Wir Menschen müssen Geheimnisse haben, der Staat dagegen nicht, auch dann nicht, wenn es vermeintlich der Sicherheit dient. Zwar können Geheimnisse persönliche Beziehungen beleben, aber in dem komplexen Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen stellen sie eine Gefahr dar. Denn das Wissen um die Geheimnisse der Bürgerinnen gibt dem Staat die Möglichkeit, Verhalten, politische Einstellungen und die öffentliche Meinung zu kontrollieren. Ein Staat darf seine Bürgerinnen nicht anlügen, darf nichts verschleiern.

Übrigens: Das Geheimnis, das diesen Text eröffnet, haben wir uns nicht einfach ausgedacht: Wir haben Menschen auf den Straßen Berlins gebeten, ihr größtes Geheimnis für uns aufzuschreiben und in eine Box zu werfen. Viele zierten sich: „Dann ist es ja kein Geheimnis mehr!“ Trotzdem offenbarten uns Fremde ihre alltäglichen Geheimnisse – und wir verraten sie in dieser Beilage. Anonym, versteht sich. Bleiben sie dennoch Geheimnisse? Was macht ein Geheimnis zum Geheimnis – und ab wann ist es als ein solches verloren?

PHILIPP JURANEK, LEONIE KAMPMEYER,

ANNE NEUMANN,

SENTHURAN SIVANANDA