„Analytisches Denken ist westlich“

Als er in China keine Gegenwartskunst-Sammlung vorfand, gründete er selbst eine: In den Siebzigern hat Uli Sigg begonnen, seine Dokumentation zusammenzutragen. Heute eröffnet in Hamburg eine Ausstellung, die sich aus seinem Fundus speist

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Sigg, Ihre Sammlung enthält subversive Kunst, Werke des Sozialistischen Realismus und Propaganda-Plakate. Worin besteht Ihr Konzept?

Uli Sigg: Während meiner China-Aufenthalte ist mir aufgefallen, dass es keine Sammlung von Gegenwartskunst gab. Da habe ich beschlossen, eine Dokumentation anzulegen, die von 1978 – dem Beginn der Gegenwartskunst – bis heute reicht.

Warum haben Sie Mao-Propaganda-Plakate und Werke des Sozialistischen Realismus mit hineingenommen?

Mich hat die Epoche der Kulturrevolution immer interessiert. Konkret hatte ich dann die Chance, mehrere Tausend Poster bei einem Chinesen zu erwerben, der 40 Jahre lang alles zu Mao gesammelt hat. Abgesehen davon sind die ersten zwei Generationen der chinesischen Gegenwartskünstler mit diesen Bildern groß geworden. Damit man versteht, woher sie kommen, ist es gut, diese Kunst zu kennen.

Würden Sie behaupten, dass es „typisch Chinesisches“ in der Kunst gibt?

Ich denke schon. Typisch chinesisch ist die Fähigkeit, sich Fremdes anzueignen und daraus etwas Neues zu machen. Ein gutes Beispiel sind die Porzellanfiguren der Tang-Dynastie, deren Gewänder und Frisuren wir Westler als ur-chinesisch empfinden. In Wirklichkeit haben die Künstler darin die Mode des persischen Kaiserhofs verarbeitet.

Wenn Chinas Kunst die Aneignung so stark zelebriert: Wird die Globalisierung irgendwann alles originär Chinesische geschluckt haben? Oder wird China den Mainstream beeinflussen können?

Ich glaube, China wird einen wichtigen Beitrag zur internationalen Kunst leisten. Dort wächst derzeit ein neues Selbstbewusstsein. Außerdem sind in China viele der Überzeugung, dass Künstler ihre Traditionen nicht nach dem westlichen Avantgarde-Modell konfrontieren, sondern weiterentwickeln sollten.

Was heißt das konkret?

Das westliche Avantgarde-Konzept besteht ja im radikalen Wegreißen des Vorigen. Viele Chinesen aber glauben, dass ihr Beitrag eher im zeitgemäßen Aufbereiten ihrer Traditionen liegen könnte.

Nicht im Hinterfragen?

Nein. Dieses analytische Denken ist sehr westlich.

Das asiatische synthetische Denken, der andere Zugang: Äußert der sich in der Kunst?

Schon. Das kann man einerseits negativ definieren. Es gibt in Chinas Kunst kaum Reflexionen über das Medium selbst. Diese formalen Dinge interessieren kaum. Es gibt auch sehr wenig abstrakte Kunst. Stattdessen ist die chinesische Kunst sehr gegenständlich, und viele Arbeiten repräsentieren eher einen Zustand, als dass sie ihn erklärten.

Sie haben einmal gesagt, dass die Umwälzungen eine spirituelle Leere in China hinterlassen haben. Was heißt das?

Die chinesische Gesellschaft glich Ende der 70er Jahre einem Biotop. Nichts durfte sich bewegen. Es gab kein Fernsehen, kein Auto; die Wohnform war festgelegt. Dann ist ein Hurrikan über diese Gesellschaft gefegt. Die totale Urbanisierung. Den Leuten wurden der Boden weggezogen. Generationenkonflikte brachen auf, neue Kommunikationsmittel kamen. Diese Veränderungen haben den Leuten alle Gewissheiten genommen.

Ein Teil der aktuellen chinesischen Kunst übt Konsumismus-Kritik. Sehen Sie das als vorübergehende Phase postsozialistischer Gesellschaften? Oder kann diese Perspektive auf Dauer eine Gegenposition zur westlichen Kunst sein?

Eine postsozialistische Phase ist es zweifellos, weil die dortige Gesellschaft derzeit durch die Phase geht, durch die wir in den Sechzigern gegangen sind. Aber erwächst aus der Kritik etwas Klügeres? Bis jetzt nicht. Auch gesellschaftspolitisch hat China bislang – etwa in puncto Verkehrspolitik – keinen Fehler des Westens vermieden.

Die Künstler sehen das?

Natürlich. Aber sie können ihre kritischen Werke offiziell oft nicht ausstellen.

Und durch den von Ihnen gestifteten Preis für chinesische Gegenwartskunst versuchen Sie das aufzubrechen?

Schon. Mein Ziel ist, dass internationale Kuratoren chinesische Kunst kennen lernen. Derzeit läuft die erste Preisträger-Ausstellung in Shanghai, die wir vor ein paar Tagen eröffnet haben. Das wäre Mitte der 90er Jahre noch undenkbar gewesen.

Wo findet die Schau statt?

In einem privaten Museum. Ein öffentliches Museum würde diese Ausstellung so wahrscheinlich nicht zeigen.

Wie entwickelt sich der chinesische Kunstmarkt? Die Preise?

Inzwischen gibt es einige chinesische Sammlungen – und noch mehr Investoren. Das hat dazu geführt, dass die Preise explodieren. In den Neunzigern konnte eine berühmte Arbeit noch für einige 10.000 Dollar den Besitzer wechseln. Heute wäre es schon eine halbe Million.

Die Schau „Mahjong“ in der Hamburger Kunsthalle ist bis zum 18.2.2007 zu sehen.