Es geht um die Ehre

RUSSLAND Beim größten Protest gegen den Kreml zählten die Veranstalter 50.000 Demonstranten

MOSKAU taz | Die ganze Stadt sei auf den Beinen, freut sich ein Demonstrant am Samstag im Moskau. Viele hatten befürchtet, dass die Beteiligung am ersten genehmigten Friedensmarsch gegen einen drohenden Krieg mit der Ukraine gering ausfallen würde. Doch die Veranstalter zählten mindestens 50.000 Teilnehmer.

Der Marsch ist die größte Aktion der Kremlgegner seit Monaten. „Nein zum Krieg“ und „Freiheit für die Ukraine“ steht auf Hunderten von Plakaten, auch kreativere Losungen sind zu lesen: „Psychiater und Drogenärzte im Kreml: Nehmt dem Patienten den Knopf weg!“ Damit ist der Knopf für den Atomkoffer des russischen Präsidenten gemeint. Die mentale Verfassung von Wladimir Putin wird derzeit häufiger diskutiert.

Alles in allem ist die Stimmung gedämpft. Die Angst, der Kreml könne einen Krieg vom Zaun brechen, war mit Händen zu greifen. Viele hatten sich aus Solidarität in ukrainische Flaggen gehüllt. Bei der Abschlusskundgebung auf dem Sacharow-Prospekt sagt der Kriegsreporter Arkadi Babtschenko, der auch vom Kiewer Maidan berichtet hatte: „Wir sind in einem Land aufgewacht, das den Nachbarstaat besetzt hat.“ Käme es zum Krieg, wäre es Russlands letzter. Das Land würde die Hunderttausenden Toten nicht überstehen, sagt er mit stockender Stimme. In der Menge erzählte ein älterer Herr, das Parlament in Kiew höre der Kundgebung in Moskau stehend zu. Die Demonstranten retteten Russlands Ehre, meinte er.

Auch Maria Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa von Pussy Riot treten auf. Viele andere Oppositionelle wie der Blogger Alexei Nawalny blieben dem Protest notgedrungen fern, weil sie unter Hausarrest stehen. Doch das war wohl nicht der einzige Grund, warum einige der bekannten Putin-Gegner den Friedensmarsch mieden. Die russische Gesellschaft ist über das Vorgehen des Kreml in der Ukraine gespalten. Wer gegen den Autoritarismus von Wladimir Putin protestiert, ist nicht automatisch ein Gegner seiner aggressiven Politik.

Der russische Imperialismus hat in den Menschen tiefe Furchen hinterlassen. „Der Glaube an die eigene Überlegenheit ist bei uns sehr weit verbreitet, unabhängig von der politischen Couleur“, sagt eine Rentnerin auf der Demo. 50.000 Teilnehmer seien nicht wenig, aber müssten nicht für die Verteidigung des Friedens noch viel mehr eintreten, fragte sie besorgt.

Journalistinnen des unabhängigen Portals lenta.ru, das unter Zensurdruck steht, grüßten die Ordnungskräfte: „Verehrte Polizisten, wir verteidigen auch Ihr Recht auf Information.“

In der Nacht zum Freitag war auch der Zugriff auf populäre oppositionelle Webseiten gekappt oder zumindest behindert worden. Darunter das Portal des Ex-Schachweltmeisters Garri Kasparow, das analytische Portal jeschedewnij journal, grani.ru und mehrere Seiten des Antikorruptionsbloggers Alexei Nawalny.

KLAUS-HELGE DONATH