Ein Stück vom großen Döner

Bei dieser Wahl gibt es so viele KandidatInnen nichtdeutscher Herkunft wie nie zuvor. Doch nur wenige haben realistische Chancen auf einen Platz im Abgeordnetenhaus. Auffällig ist: Frauen türkischer Herkunft sind in der Mehrzahl. Andere Migrantengruppen sind dagegen kaum bis gar nicht vertreten

VON ALKE WIERTH

Mit Raed Saleh durch die Spandauer Altstadt zu spazieren ist ein Erlebnis. Jeden dritten Passanten scheint der junge Geschäftsmann zu kennen – hier gibt es eine Umarmung, da die Erinnerung an ein Treffen, einen Termin. Raed Saleh ist hier groß geworden, seit 1982 lebt er in Spandau. Geboren ist er 1977 in Sabastia, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland. Heute leitet der 29-Jährige ein Café und die örtliche Filiale einer Fastfoodkette in der Spandauer Altstadt. Und: Er ist der SPD-Kandidat des Wahlkreises für das Abgeordnetenhaus.

Raed Salehs Kandidatur ist eine Premiere – nicht nur für ihn. Zum ersten Mal gibt es einen Kandidaten arabischer Herkunft bei der Abgeordnetenhauswahl. Zwar kandidieren von Mal zu Mal mehr Menschen nichtdeutscher Herkunft. Doch stellen darunter die Türkischstämmigen die größte Gruppe. Angehörige anderer Zuwanderergruppen sind bislang unterrepräsentiert – mit wenigen Ausnahmen wie die aus Kroatien stammende Jasenka Villbrandt oder die in Rumänien geborene Ramona Pop, beide Mitglied der Grünen.

Längst sind Migrantinnen und Migranten in der Politik noch nicht ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend vertreten. Das verwundert nicht, schließlich hat die Mehrheit von ihnen – immer noch – kein Wahlrecht. Nur deutsche Staatsbürger dürfen bei Wahlen kandidieren oder als Wähler ihre Stimme abgeben. Und auch bei den Bezirkswahlen haben nur Ausländer aus EU-Staaten das Wahlrecht. Unter den Berliner Einwanderern ist das eine Minderheit.

Seit Jahren politisch aktiv

Dabei haben politische Aktivitäten gerade unter denen, die als Gastarbeiter kamen, eine lange Tradition. Nicht wenige Türken oder Türkischstämmige sind seit Jahrzehnten Mitglied der SPD oder engagieren sich bei den Grünen. Dass sie nach wie vor kaum in politischen Funktionen zu finden sind, habe auch damit zu tun, dass Integration eben Zeit brauche, meint der türkischstämmige Sozialdemokrat Ahmet Iyidirli: „Man muss die Strukturen, die Spielregeln kennen lernen – die geschriebenen und die ungeschriebenen.“

Der 51-Jährige kandidierte im vergangenen Jahr erstmals als Bundestagskandidat – SPD-Mitglied ist er seit über 25 Jahren. Die Türken hätten diesen Prozess einfach früher begonnen als andere Gruppen, meint er: „Zuwanderer aus arabischen oder afrikanischen Ländern, auch russischsprachige, fangen jetzt erst an.“ Sie werden in den kommenden Jahren verstärkt in Erscheinung treten, vermutet Iyidirli.

Robert Schaddach, Kandidat der SPD in Köpenick, ist einer davon. Er ist in Berlin geboren, seine Mutter stammt aus Deutschland, sein Vater aus Kamerun. Wahlkreisarbeit sei sein politisches Alltagsgeschäft, sagt der 39-Jährige. Dass ihn die SPD wohl aufgrund seiner Hautfarbe gleich in den migrationspolitischen Arbeitskreis eingeladen hat, dass ihn zunehmend auch Vertreter afrikanischer Vereine ansprechen, stört ihn aber nicht: „Das ist ja ein wichtiges Thema.“

Mit Ülker Radziwill und Dilek Kolat sitzen derzeit zwei Abgeordnete nichtdeutscher Herkunft für die SPD im Abgeordnetenhaus. Nach den Wahlen könnten es vier mehr sein. In Friedrichshain kandidiert Canan Bayram erstmals für die Sozialdemokraten. Arbeitsmarkt- und Familienpolitik sind die Spezialthemen der 40-Jährigen. Ihren Antworten auf WählerInnenfragen auf der Webseite kandidatenwatch.de ist anzumerken, wie wichtig ihr die Vermittlung von Sachkenntnis in der Politik ist. Als Migrationspolitikerin wollte sich die Rechtsanwältin eigentlich nicht profilieren. Doch auch sie wird aufgrund ihrer türkischen Herkunft immer wieder auf dieses Thema angesprochen.

Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen und seit 1999 im Abgeordnetenhaus, hat sich damit längst abgefunden. Er wirbt mit türkischen Slogans auf seinen Plakaten für sich und hat auch vielen Deutschen schon beigebracht, dass sein Nachname „glücklich“ bedeutet. Bilkay Öney, grüne Newcomerin und gleich auf Platz 3 der Landesliste gelandet, hat ebenfalls keine Probleme, als Migrantin auch Migrationspolitikerin zu sein. Integration hat die 36-Jährige gleich zu ihrem Schwerpunkt gemacht – und damit den Weg beschritten, den Integrationspolitiker empfehlen: Vom integrationspolitischen Objekt ist Öney, die 1972 als Zweijährige nach Berlin kam, zum handelnden Subjekt geworden, das Politik nicht mehr nur erduldet, sondern mitbestimmt.

Auch in Kadriye Karcis Leben hat die Politik immer große Bedeutung gehabt – aber auf ganz andere Art. Die 45-Jährige, die in Mitte für die PDS kandidiert, war schon als Schülerin und Studentin überzeugte und aktive Linke. Deshalb musste sie die Türkei verlassen – und fand 1985 Asyl in der DDR. Mauerfall und Wiedervereinigung erlebte Karci von der anderen Seite als die Mehrheit der türkischen Zuwanderer.

In die PDS trat die studierte Philosophin und Rechtswissenschaftlerin 1996 ein – auch aufgrund ihrer Erfahrungen mit wachsendem Rassismus und zunehmender Ausgrenzung von Menschen nichtdeutscher Herkunft. Dennoch ist es ihr wichtig, nicht nur als Migrationspolitikerin gesehen zu werden: „Integrationspolitik hängt eng mit allen anderen Themenbereichen zusammen“, sagt Karci.

Außer ihr stehen mit Figen Izgin und Hassan Metwally zwei weitere KandidatInnen auf der PDS-Landesliste, die nichtdeutsche Wurzeln haben. Alle drei gehören dem Landesvorstand ihrer Partei an. Wie gut ihre Chancen sind, die PDS-Fraktion künftig zu verstärken, die bisher mit Evrim Baba und Giyasettin Sayan zwei Zuwanderer unter ihren Abgeordneten hat, ist schwer voraussehbar. Aussicht auf ein Direktmandat hat wohl keiner der Neulinge, deren Wahlkreise alle im einstigen Westberlin liegen.

Auch der Christdemokrat Sedat Samuray muss viel Glück haben, wenn er in seinem Wahlkreis eine Mehrheit der Erststimmen gewinnen und so als direkt gewählter Abgeordneter ins Parlament einziehen will. Der 54-Jährige ist der erste Kandidat türkischer Herkunft, den die CDU in den Abgeordnetenhauswahlkampf schickt. Im Wahlkreis 2 im Kreuzberger Südosten tritt der in Bandirma in der Westtürkei geborene und seit 1967 in Berlin lebende Samuray ausschließlich gegen deutschstämmige KandidatInnen an. Auch wenn der Anteil türkischstämmiger Zuwanderer in der Gegend hoch ist, stehen Samurays Chancen schlecht: Bei den vergangenen Wahlen 2001 hat die CDU hier knapp 11 Prozent der Erst- und Zweitstimmen geholt.

Sedat Samuray ficht das nicht an. Seit sein Plakat im Bezirk hängt, kann er sich nur noch händeschüttelnderweise über die Straßen bewegen. Seine Popularität im Wahlkreis ist hoch: Der väterlich wirkende Mann mit dem gemütlichen Bauch und den weißen Haaren ist auch für die erste Einwanderergeneration eine Identifikationsfigur.

„Einer-von-uns-Effekt“

Diesen „Einer-von-uns-Effekt“ haben fast alle PolitikerInnen nichtdeutscher Herkunft erlebt – und ebenso, dass er allein für Wahlerfolge nicht ausreicht. Zwar reagieren viele MigrantInnen mit Freude und Stolz auf die Kandidaturen von Zuwanderern. Doch gerade die eingebürgerten und damit wahlberechtigten Migranten sind von Wahlentscheidungen nach Landsmannschaft oder Schicksalsgemeinschaft oft längst weit entfernt.

Für den Spandauer Sozialdemokraten Raed Saleh spielt das keine Rolle. Die Zahl der Wahlberechtigten unter den arabischstämmigen Zuwanderern ist verschwindend niedrig. Bezug zur Heimat seiner Eltern hat er kaum. Dennoch hat seine Motivation, politisch aktiv zu werden, durchaus damit zu tun, dass er Zuwanderer ist: Er wolle, sagt Saleh, dieser Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, was sie ihm gegeben hat.