AN EINEM SONNTAG IM FRÜHHERBST IM BOTANISCHEN GARTEN VON BERLIN-DAHLEM
: Von Moosen und Menschen

VON DIRK KNIPPHALS

Botanische Gärten sind so offensichtlich toll, dass man sich immer, wenn man mal einen besucht, fragt, warum man eigentlich nicht viel häufiger hingeht. Und der Botanische Garten in Berlin-Dahlem ist noch einmal besonders klasse. Sofort rutscht einem das Wort Naturparadies in den Kopf. Aber um Natur geht es im Grunde gar nicht. Vielmehr um Hochleistungskultivierung. Dutzende Pflanzenarten pro Quadratmeter. Weltlandschaften – Prärie, Hochalpen, Moor – beim Vorübergehen im Minutentakt. Die Vielfalt der Welt auf einen Blick.

Ich habe hier, an diesem Sonntag im Frühherbst zwischen Ausflüglern schlendernd, das kleine Birkenwäldchen meiner Kindheit wiedergefunden, das mein Vater in einer Ecke unseres Gartens hatte pflanzen lassen. Durch den kleinen Birkenwald in Dahlem rauschte gerade ein frischer Wind. Daneben gab es einen Eichenwald, ein Trocken- und ein Feuchtmoor, einen besonders schönen Lindenwald und viele andere Baum- und Strauchkombinationen, die ich inzwischen wieder vergessen habe.

Und dann erst die kleinteiligen Anlagen! Ein paar Namen von Moosen habe ich in mein Notizbuch geschrieben. Großes Katharinenmoos. Raues Kurzbüchsenmoos. Einseitswendiges Kleingabelmoos. Gewelltblättriges Gabelzahnmoos. Gemeines Weißmoos (Ordenskissen). Schrebers Rotstängelmoos. Besen-Gabelzahnmoos. Heideschlafmoos. Schwanenhals-Sternmoos. Frauenhaarmoos. Das waren jetzt nur ein paar Namen aus der Anlage mit Waldmoosen aus Berliner Forsten.

Garten mit Lupe

Ein paar Schritte weiter gibt es einen Moosgarten mit Lupe. Da kann man dann zum Beispiel die Unterschiede zwischen Verschiedenblättrigem Kammkelchmoos und Glänzendem Hainmoos studieren. Ein bisschen freakig kommt man sich schon vor, wenn man mit so einer Lupe auf diese kleinen Pflanzen schaut. Aber man wird mit mancherlei Erkenntnis belohnt. Es stimmte. Der Kammkelchmoos hatte tatsächlich ganz verschiedenartige Blätter.

Dann sitzt man vor den riesigen Gewächshäusern auf ein paar Treppenstufen und blinzelt mit einem Kaffee in der Hand in die Sonne. Und vielleicht kommt es ja daher, dass der Blick so auf die Wahrnehmungen von Verschiedenheiten eingestellt ist – jedenfalls will einem keine der Familien um einen herum, keins der Paare und keiner der Einzelbesucher gleich vorkommen. Deutlich verspürt man einen inneren Ruck, den Erfindungsreichtum im Benennen, der sich in der Botanik offenbar austobt, einmal auf den Bereich der Menschen auszudehnen.

Da gibt es das Verliebte Turtelpärchen. Das Angestrengte Kleinkindversorgerpaar. Die Schnatternden Ausflugsfreundinnen. Den Kameratragenden Bildjägermann (in Gummistiefeln). Das Eingehakte Seniorenpaar. Den Ich-erklär-euch-mal-was-Papa. Die Gutangezogenen Spaziergangsgatten. Die Ich-will-aber-ein-Eis-Geschwister. Die Eingespielte Kleinfamilie. Den Zeichenblockbewehrten Sensiblen. Die Gemischtgeschlechtlichen Sonntags-Radwanderer. Den Bebrillten Naturkundler.

Aber, ne, das trifft es alles nicht. Vielmehr nimmt man bei den Menschen im Unterschied zu den Moosen dann ja immer auch noch die individuellen Besonderheiten innerhalb solcher Klassifizierungen wahr. So hatte der Mann des Eingehakten Seniorenpaares eine Beinprothese, undseine Frau ihren Gang in jahrzehntelanger Gewöhnung seinem Humpeln angepasst. Besonders fiel mir eine Eingespielte Kleinfamilie auf, bei der die Kinder, ein Junge, ein Mädchen, das Gesicht von der Mutter geerbt hatten, die Haare aber vom Vater: kaum zu bändigende Natur-Rastalocken. Fast wäre ich zurückgelaufen, um diese Haare mit dem Frauenhaarmoos zu vergleichen.

Ein Sonntag im Frühherbst im Botanischen Garten von Berlin-Dahlem, das ist eine Gelegenheit, um den Familienkult zu praktizieren, den Kindern was Gutes zu tun (die dann aber noch gar keinen Sinn für die Schönheiten der Natur haben), oder auch um irgend etwas zu tun, was man halt macht, wenn man am Wochenende nichts Besseres vorhat. Alles Kultivierungen des Lebens. Aber keine Hochleistungskultivierungen. Sondern eher die vielen Schattierungen des Normalseins. Ganz schön eigentlich, sich auf einen Kaffee als Teil dessen zu fühlen.