Der Held der 7.000 Bücher

EXTREMLESER Argentiniens nördlichste Bibliothek liegt auf 3.800 Meter Höhe im Grenzland zu Bolivien. Ihr Betreiber ist ein Enthusiast, hat aber ein schweres Leben

Gestern: In den 1950er Jahren publizierten argentinische Verlage 50 Millionen Bücher pro Jahr. Während der Zeit der Militärdiktatur (1976–83) sank die Zahl auf 17 Millionen. Und im Zuge der großen Wirtschaftskrise zur Jahrtausendwende mussten viele Buchhandlungen schließen.

Heute: ist die Buchproduktion wieder rentabel. 2.400 Buchläden versorgen die knapp 40 Millionen Einwohner, insbesondere die der Hauptstadt Buenos Aires. 2009 wurden 88 Millionen Exemplare (2008 waren es 96 Millionen) von den 3.200 Verlagen gedruckt. 80 Prozent von ihnen sind kleine und mittlere Unternehmen. Hergestellt wurden 2009 vor allem sozialwissenschaftliche, philosophische und rechtswissenschaftliche Publikationen (35,3 Prozent). Der Anteil der erzählenden Literatur liegt bei 20,4 Prozent (eingerechnet Kinder- und Jugendbuch). Nur in Brasilien werden in Lateinamerika pro Kopf mehr Bücher verkauft als in Argentinien.

VON JÜRGEN VOGT

Ein kalter Wind fegt den Staub durch die Straßen von Santa Catalina. Leonardo Cruz ist schon lange auf den Beinen. Der Bäcker hat bereits das Brot für das Dorf gebacken. Jetzt, kurz vor elf Uhr, eilt er Richtung Dorfplatz, öffnet das Vorhängeschloss an der Tür, hisst die hellblau-weiße Nationalfahne neben der Eingangstür: Argentiniens nördlichste und höchstgelegene Bibliothek hat geöffnet.

„Ich bin Bäcker, kein Bibliothekar“, stellt Cruz klar. Der 39-Jährige sagt, er ist ein Verwalter. „Alles gut geordnet.“ Seine Hand beschreibt den Bogen entlang der knapp 18 Meter Buchregale, die den einzigen Raum der Bibliothek umfassen.

Auf 7.000 Exemplare schätzt er den Bestand der Bibliothek. Ganz genau weiß er die Zahl nicht. Das älteste Buch stammt aus dem Jahr 1892 und erzählt die Geschichte des argentinischen Nationalhelden San Martín. Das neueste Buch, ein dickes Englisch-Spanisch-Wörterbuch, ist von 2009. Es gibt Romane, Wörterbücher, Schulbücher für Mathematik und Naturwissenschaften, Religion und Sportunterricht.

Santa Catalina liegt in der Puna, den kargen, aber vielerorts farbenprächtigen steppen- und wüstenähnlichen Hochebenen im Grenzland zu Bolivien: Im Dorf leben die 400 Dorfbewohner in 3.800 Meter Höhe. Noch im 19. Jahrhundert hatte Santa Catalina eine große Bedeutung für den Grenz- und Durchgangsverkehr der damaligen Zeit. Doch die Eisenbahnstrecke des 20. Jahrhunderts, die bis ins 60 Kilometer entfernt liegende La Quiaca gebaut wurde, ließ Santa Catalina sprichwörtlich links liegen.

Weil seither der Grenzverkehr zwischen Argentinien und Bolivien über La Quiaca und Villazón abgewickelt wird, führt Santa Catalina ein beschauliches Dasein. Kein Kino, kein Theater, kein Restaurant, keine Kneipe stört die Ruhe. Internetcafé? Fehlanzeige. Trotzdem ist Santa Catalina ist jung gebliebenes Dorf. Wer hier die Grundschule besucht, ist einer von 115 Schülern. Wer in die weiterführende Schule geht, hat derzeit 75 Schulkameraden. Nicht alle Schüler wohnen im Dorf. Viele kommen aus den umliegenden Gemeinden nach Santa Catalina.

Kleinod im Winterschlaf

Gegründet wurde die Bibliothek offiziell bereits 1872. Aber erst in den 1930er Jahren erlebte sie eine Blütezeit. Damals gab es sogar einen Bibliothekar, der im Dorf wohnte. Was darauf folgte, war ein jahrzehntelanges Abwechseln von Schließung und Wiedereröffnung. Seit 1998 ist die Bibliothek wieder in Betrieb. „Aber dem damaligen Beauftragten hatte die Arbeit nicht gefallen“, erzählt Cruz, und so hat dieser Beauftragte sich davongemacht. Ohnehin ist der Rückhalt für die Bibliothek im Dorf nicht sehr groß. Das Kleinod hält nicht nur Winterschlaf.

Am Morgen liegt die Bibliothek im Schatten. Erst wenn die Sonne gegen Nachmittag über die Bergkuppe gestiegen ist, dringen die wärmenden Strahlen durch Fenster und Eingangstür. Und weil morgens wenig los ist, lehnt sich Cruz an das Mäuerchen auf dem Platz gegenüber der Bibliothek und wärmt sich auf. Eine Heizung gibt es nicht. „Vielleicht kommen die Leute wegen der Kälte, wenn überhaupt, erst am Nachmittag.“

Wer dringend auf die Toilette muss, muss wieder nach Hause gehen. Den Strom bezahlt die Provinz. Mietkosten fallen nicht an, das kleine Ein-Zimmer-Haus gehört der Bibliothek. Wer in der Bibliothek liest, zahlt nichts, wer ausleiht, muss umgerechnet 30 Cent berappen. Mitglieder mit Bibliotheksausweis gibt es schon lange keine mehr. Nachgefragt werden vor allem Nachschlagewerke und Wörterbücher. „Was fehlt, ist ein zweiter Raum zum Lesen und Arbeiten.“

Im Mai 2000 übernahm Leonardo Cruz die Bibliothek. In den ersten Jahren bekam er noch ein bescheidenes Gehalt aus den Sozialhilfefonds. Seit zwei Jahren erhält er keinen Peso mehr. Weil er nicht auf der politischen Linie des Ortsvorstehers liegt, wird er seit zwei Jahren konsequent geschnitten. Der habe viel versprochen, aber nichts gehalten, sagt Cruz. Seit er im Amt ist, blockiert er alles, was nicht in seine Richtung passt. Cruz hofft auf die Zeit danach. Nichts Ungewöhnliches in Argentinien, wo das demokratische Verständnis noch heute vielerorts Schwarz-Weiß ist.

Lieber auf dem Bolzplatz

Kein Kino, kein Theater, kein Restaurant, keine Kneipe stört die Ruhe. Internetcafé? Fehlanzeige. Trotzdem ist Santa Catalina ist jung gebliebenes Dorf

Vor allem Schüler kommen in die Bibliothek. „Aber oft nur, wenn Prüfungen anstehen.“ Oder sie werden von den Lehrern geschickt, um für eine Arbeit über Geschichte oder Naturkunde zu recherchieren. Knapp 30 Schüler kommen so pro Woche in die Bibliothek. Freiwillig kommt jedoch fast niemand, räumt Cruz ein. „Die Kids gehen nach der Schule lieber auf den Bolzplatz.“

Auch Erwachsene kommen kaum. Der Grund: Vor gut einem Jahr wurde die kostenlose Lieferung der Tageszeitung Pregón aus der Provinzhauptstadt eingestellt. „Das hatte noch den einen oder anderen Besucher angelockt.“ Traurig deutet auf das Zeitungsarchiv, in dem die Ausgaben von Pregón seit den 1970er Jahren fast vollständig vorhanden sind. „Das haben wirklich nicht viele Bibliotheken“, ist Leonardo stolz.

„Heidi“ und „Harry Potter“

Seit 2003 ist Leonardo Cruz dabei, den Bestand zu katalogisieren und die Ausleihe zu organisieren. Cruz hat die drei Computer angeworfen. Ihre schrabbenden Geräusche verraten, dass sie einer längt überholten Generation angehören. Mit ihnen hat er eine Excel-Datei erstellt, die bereits 4.249 Bücher mit Autor, Titel und Standort erfasst. Dort findet man auch Johanna Spyris Klassiker „Heidi“ und den letzten „Harry Potter“.

Die Augen des Bäckers wandern die Buchregale entlang. Er kämpft mit den Tränen. Es täte ihm in der Seele weh, wenn die Bibliothek geschlossen werden würde. Deshalb will er die Bibliothek weiter aufschließen, montags bis freitags, morgens und nachmittags. „Weil sie einfach zum Dorf gehört.“ Cruz hofft, dass die politisch und kulturell Verantwortlichen die Bibliothek eines Tages wieder zu schätzen wissen und sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken.

Jürgen Vogt ist Argentinien-Korrespondent der taz in Buenos Aires