Schonungsloses Dokument

INTEGRATION Warum man statt Thilo Sarazzin lieber Nourig Apfeld lesen sollte

Ihre Familie ermordete ihre Schwester, ihr Rektor hänselte sie – Nourig Apfeld plädiert dennoch unverdrossen für Integration

VON CIGDEM AKYOL

Viel ist in diesen Tagen davon die Rede: Muslime lernen nicht, sie wollen sich nicht integrieren usw. usf. Mitten in dieser Debatte erscheint nun Nourig Apfeld mit ihrer Autobiografie, die diese Themen anreißt. Der Titel „Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester“ wird dem Inhalt nicht gerecht. Denn die 38-Jährige legt ein nüchternes, zutiefst persönliches und schonungsloses Dokument deutscher Wirklichkeit vor.

Rückblick. Mit sieben Jahren kommt die Tochter syrischer Kurden nach Deutschland. Ihr Leben ist geprägt von strengen muslimischen Regeln. Sie fügt sich. Doch ihre Schwester rebelliert, sucht sogar Hilfe beim Jugendamt. Es ist der 29. August 1993, frühmorgens, als Nourigs Vater sie weckt und ins Wohnzimmer zieht. Hinter dem Sofa, auf dem ihre Schwester Waffa liegt, stehen zwei Cousins, der eine, Ramadan, befiehlt ihr, an einer Schlinge zu ziehen, „damit du weißt, was mit dir geschieht, wenn du nicht nach unseren islamischen Regeln lebst“. Danach packen die drei Männer die tote 17-Jährige in eine Kiste und verbuddeln sie im Westerwald. Bis heute fehlt von der Leiche jede Spur. Ihre Biografie sei auch ein Bestattungsort für Waffa, sagt Nourig Apfeld, die damals aus Angst schwieg. Erst viel später kommt es zum Prozess und sie sagt vor Gericht aus.

Eine respektvolle Tonart zeichnet ihr Buch aus. Anders als die sogenannten Islamkritikerinnen Necla Kelek, Serap Cileli oder Seyran Ates, deren traumatische Erfahrungen niemand in Frage stellen will, bleibt die Autorin sachlich und pauschalisiert vor allem nicht. So fordert sie zu Recht für alle Einwanderer die Pflicht zum Deutsch-, Kultur-, Aufklärungs- und Erziehungsunterricht, schlägt aber statt Sanktionen gegen Integrationsmuffel ein Bonussystem für Migranten vor, „um deren Mut zur Öffnung zu fördern“.

Gerade angesichts einer Debatte, die sich viel zu sehr um Thilo Sarrazin dreht und die ernsthaften Migrationsthemen aus dem Blick verliert, lohnt es sich, in das Buch hineinzuschauen. Nourig Apfeld richtet nicht über ihre Familie. Ihr geht es um die Gesellschaft. Sie klagt diejenigen an, die den Islam benutzen, und diejenigen, die wegsehen. „Gewalt im Namen der Ehre ist keine exotische Geschichte aus dem Nahen Osten“, sagt sie.

Auch rechnet sie mit der verträumten Multikulti-Gesellschaft ab und kritisiert die Integration als eine deutsche Kollektivlüge von links und rechts: Die einen seien entschlossen, auch noch den letzten archaischen Brauch als Bereicherung zu empfinden; die anderen seien froh, wenn man von den Fremden möglichst wenig sieht. Eindrücklich schildert Nourig Apfeld die aggressive Ablehnung, die ihrer Familie einst von der Mehrheitsgesellschaft entgegenschlug. Ihr Rektor hänselte sie als einziges Migrantenkind auf ihrer Grundschule und riet anderen Kindern davon ab, mit ihr zu spielen – Ausländer würden in den Dschungel gehören.

Solche Erfahrungen werfen ein Schlaglicht auf Phänomene, die sich in nackten Zahlen nicht widerspiegeln. Nourig Apfeld verdient es, beachtet zu werden. Sie weiß, wovon sie spricht.

Nourig Apfeld: „Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester“. Wunderlich, Reinbek 2010, 288 Seiten, 19,95 Euro