Die Unparteiischen (11): Sabine Werth, ehrenamtliche Vorsitzende der Berliner Tafel
: Profitiert Berlin von der Armut?

Am Sonntag wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik jedoch ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Die Berliner Tafel, die ich 1993 mit einer Handvoll Frauen ins Leben gerufen habe, erreicht heute schätzungsweise 150.000 Bedürftige in der Stadt. Wir versorgen sie mit gespendeten Lebensmitteln, die uns von Discountern, Bäckereien, dem Großhandel, aber auch Hotels überlassen werden. Nur Waren mit gültigem Mindesthaltbarkeitsdatum, die in den Geschäften aber aus verschiedensten Gründen aussortiert wurden, gehen an die Berliner Tafel. Früher wurden sie vernichtet. Unser Verein mit seinen 600 ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sorgt dafür, dass diese Lebensmittel an Bedürftige weitergereicht werden. Denn Berlin ist eine Stadt, in der Reichtum und Armut nebeneinander existieren. Rund 500.000 Menschen – die Dunkelziffer nicht mitgerechnet – sind laut statistischem Landesamt arm. Sie sind abhängig von staatlicher Unterstützung, haben eine niedrige Rente oder ein kleines Einkommen.

Nun könnte die Vermutung nahe liegen, dass diese Menschen den Sozialstaat ungeheuer belasten. Dies ist eine Sicht auf die Dinge. Die andere: Das Geld, das die Armen bekommen, wird vollständig wieder in den Wirtschafts- und Steuerkreislauf zurückgeführt. Denn anders als gemeinhin angenommen, senken diese Menschen die Kaufkraft nicht zwangsläufig. Im Gegenteil, sie konsumieren unter Umständen verstärkt sogar Luxusgüter, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Playstation, DVD-Spieler, Handys gehören dazu. Gespart wird lieber am Essen.

Durch die Mehrwertsteuer fließen in der Regel 16 Prozent der Kosten für die erworbenen Güter zurück an die Staatskasse. Die anderen 84 Prozent von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe sind eine sichere Bank für die Lebensmittel-, Möbel-, und Elektrogerätediscounter in Berlin. Aldi, Lidl, Media Markt, Ikea – das sind echte Nutznießer der Armut. Dass die Discounter wiederum die kleinteilige Infrastruktur der Lebensmittel- und Dienstleistungsbranche kaputt machen, kann den Sozialhilfeempfängern nicht angelastet werden. Hier zeigt sich vielmehr, wie abhängig die Politik von der Wirtschaft ist.

Die PolitikerInnen haben sich – so scheint es – an die Armut gewöhnt. Und die Armen selbst? Traurigerweise haben sich viele ebenfalls darin eingerichtet. Das macht sie im Grunde zu billigen BürgerInnen. Sie fordern nicht mehr viel vom Gemeinwesen. Die Stütze – ja, aber keine Partizipation, keine Mitbestimmung, keine Bildung, keine Kultur, keine Stadt, in der der Alltag als wertvoll betrachtet wird. Auch keinen Zugang zu Entscheidungen und keinen Respekt. Als gesellschaftliches Korrektiv fallen sie aus dem Gemeinwesen heraus. Die Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft bestätigt dies. Die größte Partei ist seit Jahren jene der NichtwählerInnen.

In meinem Leben habe ich in dieser, meiner Heimatstadt, die ich auch nie verlassen habe, schon so manche Regierung miterlebt, und ich musste feststellen, dass die eine wie die andere war. Mal wurde mit vollen Händen das Geld der Blütezeit verteilt, dann wurde jede Blüte im Keim erstickt, weil „gespart“ werden musste. Aber Wut und Resignation über die Immer-wieder-Politik, die die meisten nicht so richtig befriedigt, sondern sauer macht, kann nicht die Zukunft sein. Es gibt Alternativen. Die BürgerInnenbeteiligung muss ganz großgeschrieben werden. Die Menschen, auch die Armen, müssen wieder lernen, sich in ihren Bezirken einzumischen und Verantwortung zu übernehmen.

Wer ist denn Berlin? Das sind doch wir! Wir sind die, die die Stadt gestalten. Wir sind die, die der Stadt ein Gesicht geben. Wir sind die, die protestieren und wählen können! Wenn wir verhindern wollen, dass Armut immer mehr in den Bereichen des Nicht-Monetären um sich greift, wenn wir der emotionalen Armut nicht länger Vorschub leisten wollen, dann haben wir durchaus viele Möglichkeiten, und die erste beginnt beim Wählen. Kostet nix, aber es zeigt all den anderen Profiteuren, dass wir etwas begriffen haben und eingreifen wollen. Sabine Werth

Morgen: Hat die Globalisierung das Abgeordnetenhaus längst entmachtet? Es antwortet: Dorothea Härlin von Attac