UNTER WIRTEN 2
: Mit letzter Kraft

Mein Herz rast, fast hätte ich meine Zunge verschluckt

Ermattet schleiche ich nach Hause. Es ist nach sieben, und zum ersten Mal in diesem Jahr komme ich nach Hause, wenn ich normalerweise aufstehen muss. Ich war gerade der Hölle der Neuköllner Wirte entkrochen, die sich nach einem nicht zu entschlüsselnden Prinzip ab einer bestimmten Uhrzeit am späten Abend in einer ihrer Bars treffen. Danach gehen sie auf Wirtstour und sammeln die anderen ein. Wo die Tour starten und wo sie enden wird, ob sie überhaupt enden wird! – als Nicht-Wirt kann man darüber nur spekulieren, sich über die verborgene Ordnung wundern. Und über die Ausdauer.

Wirte arbeiten in der Nacht, trinken am Morgen und schlafen am Tag. Es ist darum nicht gut, die beste Freundin der Wirte zu sein, denke ich. Und: Du bist erwachsen, such dir also Freunde mit erwachsenen Berufen. Endlich habe ich es quer durch Neukölln nach Hause geschafft. Morgen fängt ein neues Leben an, eines ohne Wirte, beschließe ich und schiebe dann wohl die Hannibal-DVD ins Laptop, um einen finalen Punkt zu setzen – denn nach 8 Uhr schrecke ich auf, die Augen nur 20 cm vor dem Bildschirm, mit dem Kopf quasi mitten in einem blutigen Gemetzel, ich war vom lauten Schmatzen der nach außen gekehrten Eingeweide aufgewacht, das Ohr auf dem Lautsprecher. Mein Herz rast, fast hätte ich meine Zunge verschluckt: Beinahe so grausam wie der letzte Whiskey mit Ginger Ale mit den Wirten! Mit letzter Kraft ziehe ich meine lasche Wangenhaut aus der Tastatur hervor. Das schmatzt genauso wie die Gedärme in Doktor Lecters schönen Händen. Dann tausche ich Laptop gegen Kissen. Ich bibbere immer noch und überlege: Wer ist wohl schon wach? Oder noch. Na toll. Ich schreibe also dem Lieblingswirt eine SMS, um über meinen leichten Schlaf zu berichten. „Wie wäre es mit einem Drink auf den Schreck“, schreibt der zurück. „Wir sitzen noch hier.“ SONJA VOGEL