Politische Zerreißprobe im Irak

Sunniten und Schiiten streiten über eine mögliche föderale Struktur des Irak, auch die Schiiten sind uneins. Die US-Truppen werden in den Bürgerkrieg hineingezogen

Kofi Annan: „Die USA sind in einer Position, in der sie weder im Irak bleiben noch ihn verlassen können“

KAIRO taz ■ Die Einschätzung des UN-Generalsekretärs zur Lage im Irak fiel deutlich aus. „Ehrlich gesagt, beurteilen die meisten Regierungen die Invasion und deren Auswirkungen als echtes Desaster, das die Nahostregion destabilisiert hat“, zog Kofi Annan ein düsteres Resümee seiner Nahostreise nach seiner Rückkehr in New York. „Die USA sind in einer Position, in der sie weder im Irak bleiben noch ihn verlassen können“, fügte er hinzu. Allein am Mittwoch waren in verschiedenen Teilen Bagdads über 60 auf die Straße geworfene Leichen gefunden worden, die meisten gefesselt und mit verbundenen Augen. Gestern kamen bei Anschlägen in Bagdad und Bakuba wieder mindestens 23 Menschen ums Leben.

Unter den Politikern des Landes tobt unterdessen eine Debatte über eine neue föderale Struktur des Landes, die den Irak vor eine Zerreißprobe stellt. Am Sonntag hatte der Oberste Rat der Islamischen Revolution, Sciri, eine der größten religiösen schiitischen Parteien im mehrheitlich schiitischen Regierungsbündnis, einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zum Auseinanderbrechen des Landes führen könnte. Er sieht vor, im Süden des Landes nach Muster des kurdischen Nordens eine Art semiautonomen schiitischen Superbundesstaat aus 9 der 18 irakischen Provinzen mit weitgehenden Befugnissen über die dortige Sicherheit und Ölproduktion zu schaffen.

Der Plan stieß nicht nur auf heftigen Widerstand der sunnitischen Abgeordneten. Sie befürchten, im Zentrum des Landes ohne Ölvorkommen als eine Art Sandwichbeilage zwischen einem kurdischen und schiitischen Staat zu enden. Aber auch unter der Mehrheit der religiösen schiitischen Parteien im Parlament besteht kein Konsens. Sowohl die Partei Muktada Sadrs mit seinen 32 Abgeordneten als auch die schiitische Fadhila-Partei stellten sich gegen den Entwurf. Falah Hasan Schanshal, der Chef von Sadrs Parlamentsfraktion, erklärte, dass im Schatten der Besatzung keine regionalen föderalen Staaten gebildet werden dürften, da dies zum Auseinanderbrechen des Irak führen würde. Ahmad al-Hasani al-Baghdadi, einer der prominenten religiösen schiitischen Rechtsgelehrten, veröffentlichte gar eine Gegenfatwa: „Der Föderalismus beinhaltet politische, wirtschaftliche und soziale Krankheiten, die nur dem amerikanisch-israelischen Projekt dienen“, heißt es dort. Es sei die Pflicht eines jeden Schiiten, jeden zu boykottieren, der dazu aufruft.

Die Föderalismusdebatte hat nicht nur das schiitisch-sunnitische Verhältnis verschlechtert, sie hat auch die immer offener zu Tage tretenden innerschiitischen Gegensätze zwischen Sciri und den Sadristen verschärft. Die letzten Parlamentswahlen bescherten den religiösen schiitischen Parteien Wahlsiege in 11 von 18 irakischen Provinzen. Neun davon werden von Sciri beherrscht. Sciri gilt als der iranische Ableger in der irakischen Politik, zählt aber paradoxerweise dennoch zu den wichtigsten und verlässlichsten Partnern Washingtons im Irak.

Ganz anders als Muktada Sadr, dessen Hochburg sich in den schiitischen Slums von Bagdad befindet, und der, als jemand der nie im Exil war, immer mehr die irakisch-nationalistische Karte ausspielt. Er fordert einen genauen Zeitplan für den Abzug der ausländischen Truppen. Seine Mahdi-Miliz hat bereits mehrmals die US-Truppen auch militärisch herausgefordert. Sadrs Popularität wächst. Es wird erwartet, dass er bei den überfälligen Provinzwahlen große Zuwächse im Süden auf Kosten von Sciri erreichen wird.

Doch Muktada Sadr im Aufwind hat seine eigenen Probleme. Anders als in den Slums von Bagdad, die er mit einer handvoll Predigern und seinen Mahdi-Milizen kontrolliert, muss er sich im Süden mit einigen mächtigen Stammesfürsten arrangieren. Und die machen sich gerne selbstständig. Letzten Monat löste ein eigenmächtig agierender Stammesfürst mit seiner lokalen Privatmiliz in der Provinz Diwaniyah die bisher schwerste innerschiitische Konfrontation aus, bei denen über 80 Menschen ums Leben kamen. Es war nicht nur ein persönliches Gespräch zwischen Muktada Sadr und Provinzgouverneur Hamzeh, sondern auch eine 500-Pfund-Bombe der US-Luftwaffe, die den Konflikt vorläufig beendete. Ein erstes Anzeichen dafür, dass die US-Truppen Gefahr laufen, in einen Bürgerkrieg und sogar in die innerschiitischen Streitigkeiten mit hineingezogen zu werden.

In Washington geht inzwischen die Befürchtung um, dass die US-Armee dafür nicht ausreichend vorbereitet ist. „Natürlich sollten wir dafür planen. Wir sollten nicht nur einen Plan B, C, D, E und F haben, sondern vielleicht sogar einen Plan G und H“, meint Ralph Peters, ein Offizier des US-Militärgeheimdienstes a. D. dazu. Das Problem sei, sagt er, dass es bisher kaum Anzeichen für eine solche Planung gibt. „Sie sind immer noch überzeugt davon“, meint Peters, „dass es im Irak am Ende doch irgendwie gut ausgehen wird.“

KARIM EL-GAWHARY