Der Schatten des Klaviers

Wer sagt eigentlich, dass man ein Klavier nur mit den Fingern spielen sollte? Zusätzlich zu den Tasten gibt es schließlich die Pedale, mit denen verschiedenste Klänge möglich sind, die durch Fingerdruck allein nicht entstehen können. Überhaupt ist das Spektrum dieses Instruments, das mitunter als bildungsbürgerlicher Restbestand des 19. Jahrhunderts belächelt wird, alles andere als ausgeschöpft.

Dass man innerhalb des Resonanzkörpers, also ganz ohne Tasten, oder aber mit zusätzlichen Objekten auf den Saiten – wie beim „prepared piano“ – ungewöhnliche Töne hervorbringen kann, ist seit einigen Jahrzehnten ausführlich erprobt worden. Der in Berlin lebende Komponist Mark Andre hingegen interessiert sich für einen Aspekt dieses Instruments, der manchmal übersehen wird: den Ausklang.

Der unbestreitbare Nachteil des Klaviers, dass man, anders als bei einem Streichinstrument oder einer Orgel, die Töne nicht einfach in alle Ewigkeit weiter schwingen lassen kann, sondern sie, einmal angeschlagen, zwangsläufig langsam verhallen, wird in Andres Klaviermusik zum bewussten Gestaltungsmittel. Dieser Nachhall lässt sich höchst unterschiedlich einsetzen, wie auf der vor Kurzem erschienenen Zusammenstellung „Piano Music“ nachzuhören ist.

Dabei lassen die von den Pianistinnen Tomoko Hemmi und Yukiko Sugawara eingespielten Werke eine Entwicklung in Andres Herangehensweise erkennen. Während in den neunziger Jahren häufig noch die „konventionellen“ perkussiven Tastentöne dominieren, verschiebt sich die Aufmerksamkeit in den neueren Werken zunehmend hin zu den reinen „Schattenklängen“ des Instruments, wie Andre sie nennt.

Bei ihm kommen sämtliche drei Pedale zum Einsatz: das Haltepedal, das alle Saiten frei schwingen lässt, das Pianopedal zum Leisespielen und das sogenannte Tonhaltepedal, mit dem man einzelne Töne frei ausklingen lassen kann, während alle übrigen Saiten weiter gedämpft werden und nur so lange klingen, wie die Tasten gedrückt bleiben.

In den Stücken „iv 11a“ und „iv 11b“ von 2011 treibt Andre seinen Nachhall-Ansatz ins Extrem: So entstehen die Klänge bei „iv 11b“ durch Klopfen auf den Rahmen des Instruments und impulsives, genau vorgeschriebenes Treten der Pedale – eine Art Geistermusik aus dem Inneren des Resonanzraums. Eine Versenkung der radikalen Art, ein Gebot, wenn man so möchte, auf die stilleren, im Instrument verborgenen Töne zu hören, was durchaus spirituell gemeint ist.

TIM CASPAR BOEHME

■ Mark Andre: „Piano Music“ (Wergo/New Arts International)