Außen vor

Hafenstraße, Nicaragua, Torwart: Für die St.Pauli-Fans war Volker Ippig eine Ikone. Für die Kollegen „der Gestörte“ und für die Presse ein Problem. Heute trainiert er Jungs, die davon nichts mehr wissen

von FRIEDERIKE GRÄFF

Volker Ippig trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dessen Rücken „Schleswig-Holstein“ steht. Seine Haare sind lang und ein bisschen wirr unter der Baseballkappe. Er spielt lange Flanken zu den Jungs im Tor. „Bloß nicht entgegengehen“, murrt er. „Schön bequem bleiben“. Aber er flucht vor allem dann, wenn sie ihn nicht hören können.

Vor zwanzig Jahren, bei seinem Auftritt im aktuellen Sportstudio, hat er nicht geflucht. Er hat einfach gar nichts gesagt. „Ein Fußballprofi und Nicaragua, das krieg‘ ich nicht zusammen“, sagte der Moderator. Er schon, sagte Volker Ippig. Mehr nicht. Ippig war damals Torwart beim 1. FC St.Pauli, aber vor allem war er ein Fußballer, der nach Nicaragua gegangen war, um ein Gesundheitszentrum zu bauen. Der in der linksautonomen Hafenstraße gewohnt hatte, der mit dem Fahrrad zum Training fuhr. Die Fans ließen T-Shirts mit seinem Foto drucken, „Volker, hör‘ die Signale“ stand darauf.

„Entschuldigung“, ruft Ippig, wenn eine seiner Flanken auf dem Platz einmal nicht genau trifft. Die anderen Nachwuchs-Trainer tragen die Vereinsfarben, braun und weiß, und Ippigs Torwart-Schüler Trikots oder Handschuhe mit dem St.Pauli Stern. „Kollegen“ nennt er sie. Seine eigenen haben ihn damals den „Gestörten“ genannt. „Was interessiert mich das?“, sagt Ippig.

Ob er Außenseiter war? „Das war ich schon länger. Man wird es ja nicht von einem Tag auf den anderen“. Man wird es leicht, wenn man immer mitdenkt, dass die Dinge relativ sind. Man wird es, wenn man mit dem Fußball aufhört, um in einer Behindertenschule zu arbeiten. Oder wenn man bei den DKPlern in Nicaragua während der Internationalen sitzen bleibt.

Volker Ippig hat früh gewusst, dass er ein mittelmäßiger Feldspieler, aber ein ziemlich guter Torwart ist. Und als das auch den Trainern von St.Pauli auffiel, holten sie den 17-Jährigen aus dem schleswig-holsteinischen Dorf Lensahn nach Hamburg. Dort wohnte er beim Präsidenten von St.Pauli, Otto Paulick, in einer Villa an der Elbchaussee. „Es war ein großbürgerliches Haus“, sagt Ippig. „Und Annegret und Otto waren zwei wirklich freie Menschen“. Bei Paulicks sah die Familie nicht fern beim Essen, wie er das von zu Hause gewohnt war. Sie redete miteinander. Über Theater, Fußball, Kunst, über das linke Wirtschaftsgymnasium, das Ippig besuchte. „Und ich hab‘ versucht, mich von meiner eigenen Engstirnigkeit zu befreien“.

Volker Ippig beginnt zu lesen wie im Rausch, Märchen, fantastische Literatur, Bücher über Indianer-Stämme. Er liest von Menschen, denen es, anders als ihm, etwas bedeutet, wenn ein Vogelschwarm von links nach rechts fliegt. Er fragt sich zum ersten Mal, warum eine Art zu denken richtiger sein sollte als die andere. Und wer darüber entscheidet.

Er besucht mit den Paulicks Ausstellungen befreundeter Künstler und schließt sich einer Nicaragua-Gruppe an, die er über seine Lehrer kennenlernt. 1982, als er Abitur macht, gibt ihm der Trainer den Stammplatz im Tor. Es ist eine gute Saison, sie kommen auf den ersten Platz in der Amateur-Oberliga Nord. 1984 steigen sie in die 2. Bundesliga auf und 1988 in die erste. St. Pauli ist das, was man eine „Fahrstuhlmannschaft“ nennt, sie steigen in so raschem Wechsel auf und ab, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Bei Volker Ippig ist es ähnlich.

Als er Stammtorwart geworden ist, beschließt er, in die Hafenstraße umzuziehen. Über die Nicaragua-Gruppe kennt er Freunde, die in den besetzten Häusern wohnen. „Im Rückblick finde ich es undankbar“, sagt Ippig. „Aber es war gerade diese Freiheit, die ich bei Paulicks kennengelernt hatte“. Otto Paulick fährt ihn in die Hafenstraße, und Ippig erinnert sich daran, wie Paulick aus dem Autofenster auf eine der Schrottinstallationen vor den Häusern sah und sagte: „Das ist echte Kunst“.

Ippig hat kaum Gepäck dabei, nur ein paar Anziehsachen, als er in die Hafenstraße einzieht. Ihm gefällt es, wie unterschiedlich die Leute sind, die dort leben: Studenten, Aushilfsfahrer, Punks, Familien. Leute, die vor allem Parties feiern und solche, die die Häuser renovieren wollen. Auch Alkoholiker. „Pennermäßig“, sagt Ippig. „Aber sie waren integriert“. Es sind Leute mit ähnlich brüchiger Biographie wie er.

Er beginnt nebenbei eine Heilpraktikerausbildung, abends kocht er mit den Leuten. Für ihn sind die privaten Gespräche mit ihnen „unheimlich inspirierend“, anders als die langen Plenumsdebatten, die ihm zu zäh und die Diskussionen über Politik, die ihm zu eng sind.

Beim Barrikadenbau und Häuserkampf ist er nicht dabei. „Beim Fußball musste ich mich genügend verteidigen“, sagt er. „Das war für mich realer“. Er lebt nur drei Monate in der Hafenstraße, aber für die nächsten 20 Jahre wird er in der Öffentlichkeit immer der Torwart sein, der einmal dort gewohnt hat.

Dann stirbt sein Großvater, und er geht zurück nach Lensahn. Es ist schwierig zu verstehen, was ihn zurück treibt. Er selbst sagt, dass er sich damals gefragt habe, was denn in seinem eigenen Leben haltbar sei. Und er hat genug vom Fußballtrott, vom ständigen Training und den verplanten Wochenenden. In Lensahn wohnt er wieder bei seinem Vater, dem Uhrmachermeister, und macht ein einjähriges Praktikum in einer Schule für behinderte Kinder. Er kommt gut mit ihnen zurecht, aber er ist zu unruhig, um dort zu bleiben. Stattdessen geht er für ein halbes Jahr nach Nicaragua.

Dort lebt er in einer Holzhütte am Nicaraguasee, die sich beim Sonnenuntergang vollständig rot färbt. Er begegnet Ochsenkarren statt Autos und Leuten, die in Verschlägen mit offener Feuerstelle leben. Manchmal fährt die Gruppe zu einer DKP-Brigade nach Managua. Die Leute dort diskutieren lange über die Frage, ob man ab Berlin-Schönefeld fliegen solle, weil dann Teile des Geldes an die kommunistischen COMECON-Staaten gingen. Sie sehen Ippig böse an, als er nicht aufsteht, als die Internationale gespielt wird. Später wird ihm einer der Teilnehmer sagen, dass er sich gefragt habe: „Was will denn ein Fußballer hier?“

Als Ippig zurück nach Hamburg kommt, ist er „nicht mehr integrierbar“, so nennt er es. Er spielt wieder Fußball, weil es das ist, was er kann, aber er macht Ärger. Die Geschichte, wie er einmal sagte:„Das Wetter ist zu schön“ und sich auf die Wiese legte, statt zu trainieren, haben sich die Kollegen noch jahrelang erzählt. „Ich habe die Moral untergraben“, sagt Ippig, und schließlich entlässt man ihn. Er geht zurück nach Lensahn, es ist eine schreckliche Zeit, bis er Otto Paulick anruft und fragt, ob er zurück kommen könne. „Da musst du den Trainer anrufen“, sagt Paulick. Der Trainer sagt ja.

Ippig zieht in eine WG nach Blankenese, weil er findet, dass ihm ein bisschen Bürgerlichkeit gut täte. Er begrüßt die Fans mit erhobener Faust und verabschiedet sich nach dem Spiel per Handschlag von ihnen. Als sie mit seinem T-Shirt im Stadion erscheinen, findet er das „in Ordnung“. Er sagt, dass es ja nicht das erste gewesen sei, weil es vorher schon das von Franz Gerber gegeben habe, einem Stürmer, den sie „Schlagen-Franz“ genannt haben. „Es muss geil sein, vor so einer Kulisse zu spielen“, sagen die Fans zu ihm, die nichts von den Krämpfen ahnen, die einen Torwart nach dem Spiel überfallen. Nicht wegen der körperlichen Anspannung, sondern wegen der geistigen. „Eh, Alter“, sagt Ippig dann. „Ich muss Leistung bringen“. Er sagt, dass die anderen Spieler von der Stimmung getragen würden. „Aber der Torwart ist immer außen vor“.

Mittlerweile ist Ippig so bekannt, dass man ihn bittet, für die Rettung einer Hamburger Werft Zettel zu verteilen. Als am nächsten Tag ein Artikel darüber in der „Morgenpost“ steht, sagt der neue Trainer, der über eine ABM-Stelle gekommen ist: „Du solltest lieber trainieren“. „Du blödes Arschloch“, hat Volker Ippig damals gedacht. „Wieder einer, der vergessen hat, woher er kommt“. Aber er hat nichts gesagt.

Er sagt auch nichts, wenndie Kollegen beim Essen erzählen, dass es doch besser wäre, die Häuser in der Hafenstraße platt zu machen. Ein paar von ihnen nimmt er nach einem Spiel einmal dorthin mit zum Feiern. „Das sind ja richtige Menschen“, sagen sie hinterher. Ippig schenkt Otto Paulick zwei Genossenschaftsanteile an der Hafenstraße zum Geburtstag. Hat der sich gefreut? „Er fand es in Ordnung“.

Ippig macht seinen Frieden mit dem Fußball. Er ist Ende 20, das ist ein Alter, in dem man als Torwart noch gute Jahre haben kann. Bis er beim Aufwärmen auf geforenem Boden stürzt und sich einen Rückwirbel bricht. Er spielt das Spiel, dann ist es vorbei. Da ist er 29 Jahre alt. „Heute haben alle Stadien Bodenheizung“, sagt er. „Da gibt es keinen geforenen Boden mehr“.

Wieder einmal geht er zurück nach Lensahn. Er versucht, die Heilpraktikerausbildung zu Ende zu bringen, aber er scheitert dreimal an der Prüfung. Weil er sich kaum noch bewegt, wird er immer dicker, bis er sich aufrafft, und beim TSV Lensahn mitspielt. Dritte Liga, Kreisklasse A, als Mittelfeldspieler. Schließlich trifft er eine Entscheidung: Er will Torwarttrainer werden, absolviert die notwendigen Kurse und wird bei St.Pauli übernommen. Doch er überwirft sich mit den Vereinsleuten. Heute arbeitet er als freier Torwarttrainer mit Gruppen und Einzelnen. „Jetzt bin ich staatlich anerkannter Fußballlehrer“, sagt er in einem schwierig zu deutenden Tonfall. Mittlerweile kann er seine Familie damit ernähren.

Heute, sagt er, sei es kein Problem mehr, wenn ein Fußballer sich dazu entscheidet, nach Nicaragua zu gehen. „So ändern sich die Zeiten“. So sehr, dass es sich für die Spieler wirtschaftlich lohnt, weil auch Nike und Adidas ein bisschen Engagement begrüßen.

Draußen, bei den Umkleiden auf dem Nachwuchs-Trainingsplatz, steht noch einer der Torwartschüler. Ob er schon einmal etwas von den „Volker, hört die Signale“-T-Shirts gehört hat? „Nein“, sagt er. „Hier im Verein wird nicht so viel geredet“.