: Im Schatten der Postkartenidylle
Rio de Janeiro in sechs Stationen: Dschungel und ein Pinseläffchen mitten in der brodelnden Großstadt, ein deutscher Juwelier und sein brasilianischer Sohn, eine Rückkehr nach Brasilien mit Schwierigkeiten, das Bohemeviertel Santa Teresa, Edelholz für Violinen, ein Künstler und sein Lebenswerk
von GÜNTER ERMLICH
„Es gibt keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr“, schrieb Stefan Zweig über Rio de Janeiro. Was fangen wir mit ihr an? Wir sind ja nur auf Stippvisite in Brasiliens Metropole. Um die touristischen Muss-Orte Copacabana und Ipanema, den Zuckerhut und die Christus-Statue auf dem Corcovado kommt kein Rio-Novize herum. Aber die Sechs-Millionen-Stadt hat auch weniger bekannte Seiten.
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Rio kann wunderbar still sein. Zum Beispiel in Urca, einem künstlich angelegten, aufgeschütteten Stadtviertel, wo die Drahtseilbahn zum Zuckerhut startet. Mit Marco, unserem Guide, wollen wir zur Mittelstation auf den 220 Meter hohen Morro da Urca wandern. Zunächst geht es auf der breiten Pista Claudio Coutinho, nach dem Trainer der brasilianischen Weltmeisterelf 1978 benannt, durch ein Naturschutzgebiet leicht bergan. Schon bald wird der bequeme Wanderweg zum glitschigen Dschungelpfad. Willkommen im Regenwald! Mitten in Rio, direkt am Atlantik. Pinseläffchen sitzen in Mandelbäumen und gaffen uns an, wir schlängeln uns durch saftiges Grün. Die Luft ist feucht und schwül, wir atmen schwer, der Schweiß rinnt in Strömen. Auf dem Plateau angekommen, schauen wir Bergsteigern zu, wie sie mit Haken und Ösen an der felsigen Granitflanke des Zuckerhuts hochklettern. Von der Mittelstation gondeln wir mit der rundum verglasten Seilbahn zum Gipfel hoch. Dort hat eine Mädchenschulklasse offenbar gerade ihre Blockflötenstunde. Blockflöte und Zuckerhut, das passt irgendwie nicht recht zusammen.
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Am nächsten Morgen gehen wir Juwelen gucken bei H. Stern. Ein schmuckloses Hochhaus in Ipanema. Die Geschäftszentrale des Schmuckimperiums. Firmenpatriarch Hans Stern, eine lebende Legende, ist gerade irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs. Der gebürtige Essener, der 1939 mit 16 Jahren vor den Nazis nach Brasilien flüchtete, verkaufte mit 23 seine Ziehharmonika, um in Edelsteinen zu machen. In seiner neuen Heimat wurde er „Hans im Glück“. Heute besitzt Stern 160 Boutiquen in 12 Ländern und beschäftigt rund 3.000 Mitarbeiter. H. Stern ist eine gefragte Marke. Hollywoodstars wie Sharon Stone und Angelina Jolie lassen seinen Schmuck auf Red-Carpet-Events funkeln. „Mein Vater fühlt sich immer noch als Deutscher. Er liest auf Deutsch, hört klassische deutsche Musik“, erzählt uns Chefdesigner Roberto Stern beim Rundgang durch die Werkstätten, „ich bin zu 100 Prozent Brasilianer. Capoeira, Flexibilität, Kreativität.“ Im Stern-Haus sind die Wege kurz, die Handwerker – Schmelzer, Steineinsetzer, Polierer – sitzen hinter Glasscheiben, Tür an Tür mit den Designern. „Wir machen im Haus das Design, das Konzept kommt von außen“, erklärt uns Roberto. Die neueste Kollektion stamme von der New Yorker Modeschöpferin Diane von Fürstenberg. H. Stern ist einer der größten Touristenmagneten in Rio. 100.000 Besucher, auch schon mal in Flip-Flops und Shorts, besuchen im Jahr das Edelstein-Museum und die Verkaufsräume mit ihren Farbedelsteinen Aquamarin, Topaz und Turmalin. „Da ist Schmuck für jedermann dabei“, sagt der deutsche Verkäufer, „von 100 bis 100.000 US Dollar.“ Zum Abschied spendiert Roberto Eis in der hauseigenen Eisdiele.
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„Santa Teresa ist ein bisschen wie Montmartre in Paris“, sagt Carlos Magno. Ein Bohemeviertel, wo viele Maler, Fotografen, Musiker und Lebenskünstler aller Art wohnen. Und seit drei Jahren auch Touristen in Privathäusern. Damals hat den 27-jährigen Carlos mit zwei Freunden das Projekt Cama e Café, die brasilianische Variante von Bed & Breakfast, gegründet. Inzwischen hat die Agentur rund 100 Häuser unter Vertrag, die allermeisten Vermieter sprechen Englisch, im Schnitt kostet das Doppelzimmer rund 40 Euro. In Santa Teresa sei es nicht so laut und so heiß wie in der Unterstadt, sagt Carlos, nicht so körperkultig wie an der Copacabana. Wir spazieren durch das hügelige Viertel mit den Art-déco-Häusern und Gärtchen, seinen gewundenen Straßen und kleinen Restaurants. Rumpelnd und quietschend kurvt Bonde, die denkmalgeschützte gelbe Tram, den Berg hoch. Als sie anhält, springen einige junge Schwarzfahrer aufs Trittbrett. Ein Stück weiter dringt Samba durch die Mauern der Escola Municipal. Die Schüler proben mit Trommeln und Schellen fürs Schuljubiläum. Carlos führt uns zur Casa Aurea, einem restaurierten Gebäude, das sich hinter dicken Mauern verbirgt. Inhaber Cornelius Rohr ist Mitglied im Cama-e-Café-Verbund. Der Garten mit Palmen und Akazien, Schaukelstuhl und Hängematte ist ein Ruhepol im quirligen Rio. Bis 12 Uhr mittags können Gäste an den rustikalen Tischen und Bänken frühstücken, die Cornelius eigenhändig aus Jacaranda- und Pinienholz gezimmert hat. Ein argentinisches Künstlerpaar hat sich bei ihm fest einquartiert.
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Wie viele Cariocas, die Einwohner Rios, gehen auch wir am Sonntag in den Botanischen Garten. Er ist ein üppig-grünes Refugium im brodelnden Hexenkessel. Wir schlendern durch die Allee turmhoher eleganter Königspalmen. Die ungekrönten Stars des symmetrisch angelegten Parks wurden hier schon vor knapp 200 Jahren vom Prinzregenten Dom Joao VI. angepflanzt. Rund 7.200 Pflanzenarten kommen im Jardim Botânico vor, wilde Orchideen und Flamboyants, Bromelien und Seerosen, auch Importe aus dem Amazonasgebiet wie die Wasserpflanze Victória Régia. Zwei Liebende posieren und fotografieren sich vor dem raren pau brasil, dem Brasilholz-Baum. Aus dem teuren und edlen Brasilholz wurde früher vor allem ein roter Farbstoff gewonnen, noch heute werden aus dem Edelholz Violinenbögen hergestellt.
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Jorge Selarón lebt auf der Treppe. Seiner Selarón-Treppe. Der chilenische Lebenskünstler war durch die halbe Welt vagabundiert, bevor er sich vor über 20 Jahren in Rio niederließ und sein Lebenswerk begann. Nach und nach verschönerte der Künstler die 215 Stufen zwischen dem Kloster Santa Teresa und der Rua Joaquin Silva mit Fliesen. Oben fallen vor allem grüne, gelbe und auch blaue Fliesen ins Auge, die Farben der brasilianischen Flagge, die Farben von Selaróns geliebter zweiter Heimat. Weiter unten, wo die Stufen kunterbunt sind, hockt der Fliesenmann heute auf seiner Treppe. Er trägt einen grauen Zopf und gezwirbeltem Schnauzbart, auf dem hellblauen T-Shirt mit Katzenbildern steht „Les Chats de Paris“, seine Hose ist im Schritt aufgeplatzt, die Sohlen seiner Lederslipper haben sich gelöst. „Inzwischen habe ich über 2.000 Fliesen aus 73 Ländern“, erzählt er. Touristen brächten ihm Fliesen aus der ganzen Welt mit, von überall bekäme er welche zugeschickt. Er redet wie im Rausch, wir können gar nicht so schnell gucken, wie er auf immer neue Motive hinweist: Hier der Kölner Dom, da eine Fliese aus der U-Bahn von Buenos Aires, dort rechts eine Stierkampfszene von Picasso, hier links noch eine deutsche Fliese. Das Wappen von Quickborn! „Dieser verrückte und einzigartige Traum wird erst am Tag meines Todes enden“, steht auf einem Handzettel, den Selarón uns mitgibt. Als wir uns noch einmal umdrehen, weil wir ihn Beethovens Neunte flöten hören, zeigt er lächelnd auf die Fliesenreihe mit den Noten.
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Samstagabend. Wir fahren mit Márcia nach Lapa, ins neue Szeneviertel unterhalb des Santa-Teresa-Hügels. Seit kurzem lebt Márcia wieder in Rio, vorher wohnte sie in Frankfurt, arbeitete 30 Jahre bei Lufthansa. „Ich war von der Kriminalität in Rio abgestoßen“, erzählt die kleine, schwarz gelockte Frau. Jetzt gewöhnt sie sich vorsichtig wieder an den Rhythmus von Rio, geht abends aber nur in Begleitung aus, fährt nur Taxi. Sie ist zum ersten Mal nach Lapa gekommen. Die Gegend im Schatten der markanten Doppelbögen des Aquädukts war früher ein heißes Pflaster, Prostitution, Drogen, Kriminalität. Betreten nur auf eigene Gefahr! Seit ein paar Jahren wächst hier eine Partyzone, zwischen maroden Kolonialhäusern öffnen immer neue Bars, Restaurants und Clubs mit Live-Musik. Wie das mit Antiquitäten und allem möglichen Krimskrams ausgestattete Rio Scenarium, ein „Kulturpalast“ auf drei Etagen, zu denen ein Paternoster pendelt. Zwischen alten Schränken und Kanapees, Fahrrädern und Vogelkäfigen, die von der Decke baumeln, tanzen die Cariocas auf dem Parkett. Der Bossa Nova der Liveband dringt durch die Fenster auf die Straße, die voller Partygänger ist. Wir ziehen weiter in den Szeneschuppen Carioca da Gema. Der Club ist zum Bersten voll, auf der Bühne singt Tereza Christina Samba. Márcia stellt ihr Glas ab, beginnt mit den Hüften zu schwingen und strahlt. Es scheint, als sei sie wieder zu Hause angekommen. „Was ich in Rio brauche, das sind die Musik und das Lebensgefühl.“
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