Dieser Faustschlag tut gut

KLASSENKAMPF Der wichtigste Beitrag vor den Beatles: Selten nach 1945 wurden gesellschaftliche Umbruchprozesse so komisch, virtuos und genau geschildert wie in Philip Larkins Debüt „Jill“ und Kingsley Amis’ Roman „Lucky Jim“. Eine Neuübersetzung lädt zur Entdeckung ein

Jim Dixon ist eine wirklich beglückende Figur – ein komischer Hamlet, der sich immer bis zum letzten Moment auf hasserfüllte Beobachtung und heimliches Grimassenschneiden beschränkt, bevor er sich doch noch aufrafft

VON STEPHAN WACKWITZ

Vor allem der überwältigende und bis heute anhaltende Erfolg von Kingsley Amis’ Roman „Lucky Jim“ markiert den Beginn jenes modernen tragikomisch-realistischen Erzählens, das neben der dann bald auftretenden Popmusik und -kunst der entscheidende britische Beitrag zur Gegenwartskultur gewesen ist. Die ersten großen Gedichtbände seines Freundes und Bundesgenossen Philip Larkin ergänzten dieses neue Erzählen bald darauf durch eine populäre, verständliche Lyrik, die Errungenschaften des Modernismus nicht preisgab, aber gegen die Eliten wendete, die sie in Oxford und Bloomsbury erfunden hatten.

Die literarische Moderne wurde, zum ersten Mal, in den Dienst einer kleinbürgerlich-proletarischen Sensibilität gestellt. Man muss das literarische Reformunternehmen Larkins und Amis’ betrachten und bewerten auf dem Hintergrund der politischen Reformen der Labourregierung nach 1945, auf dem Hintergrund der Abwahl Winston Churchills (des letzten altadligen britischen Premiers), vor dem Hintergrund eines umfassenden Gefühls der englischen Mittelklasse, jetzt sei ihre Zeit gekommen.

Ein stillgelegter und in die kulturell-erotische Sphäre verschobener Klassenkampf ist der literatursoziologische Hintergrund des Leidens an Oxford und an der dort herrschenden Bildungsaristokratie in Larkins Frühwerk „Jill“. Und dieselben Klassenspannungen bilden den Treibstoff der komischen und märchenhaften Aufsässigkeit, mit der in Kingsleys „Lucky Jim“ der junge misfit James Dixon die Drachen der Universitätsbürokratie besiegt, sie der bis heute an ihnen haftenden Lächerlichkeit preisgibt, den begehrten Job in London erobert. Und außerdem und vor allem: He gets the girl.

Dass „Jill“ tragisch ausgeht (Larkin schrieb den Roman 1943/44) und „Lucky Jim“ (der in den frühen Fünfzigerjahren entstand) komisch-triumphal – zwischen diesen beiden literarischen Formelementen liegt und in ihnen spiegelt sich der Aufstieg der neuen britischen Mittelklasse, die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, die Einführung des Wohlfahrtsstaats und die Brechung des Machtmonopols der seit Jahrhunderten herrschenden britischen Adelskaste.

Was beim Wiederlesen der beiden Romane auffällt, ist dabei die Bescheidenheit und die komische Selbsthemmung der Ansprüche, die sich in diesem Jahrzehnt durchgesetzt haben. „Das Leben hatte ihn von Grund auf gelehrt, genau dann eine Entschuldigung auszusprechen, wenn er eine hätte fordern müssen“, heißt es von James Dixon einmal. Am Schluss von „Jill“, wenn der Held John Kemp, bildlich gesprochen, vernichtet am Boden liegt, läuft ein kleiner Hund ins Bild. Christopher und Elizabeth, die beiden jugendlichen Oberklasse-Bösewichter, die ihn durch ihre Intrigen ruiniert haben, warten auf das Taxi, das sie nach London bringen wird, in die begehrte Glamour-Metropole, wo Elizabeth Christophers Geliebte sein wird. Die fiese Elizabeth beugt sich über das Tier, sagt etwas wie „gutes Hundchen, braves Hundchen“, und der kleine Hund knurrt sie an. Damit endet der Roman.

Dieses Knurren hat sich in „Lucky Jim“ zum Brüllen eines erwachten britischen Mittelklasse-Löwen verstärkt. „Machen Sie sich mit Ihrem sogenannten Verstand eines endgültig klar“, sagt in der Schlüsselszene von „Lucky Jim“ Bertrand, der arrogante, unerträgliche, lächerliche Sohn des Professors, zu James Dixon. „Wenn ich etwas sehe, das ich haben will, dann nehme ich es mir. Ich lasse nicht zu, dass Leute Ihres Schlages mir im Weg stehen.“ Und Jim argumentiert gar nicht mehr lang. Er haut dem Noch-Freund seiner angebeteten Christine, dem er außerdem bald den Job in London vor der Nase wegschnappen wird, eine rein.

Genau das ist zwischen 1945 und 1955 in Großbritannien gesellschaftlich passiert. Es tut einem beim Lesen irgendwie heute noch gut, den Umschlag von der passagenweise fast nicht zu ertragenden Depression, die in „Jill“ herrscht, zu der optimistischen, komischen, aggressiven (an Eichendorffs „Taugenichts“ erinnernden) Heiterkeit des späteren Romans lesend nachzuvollziehen. Es macht auch nichts, dass „Lucky Jims“ Siegeszug sich in einer märchenhaften Atmosphäre des Unwirklichen vollzieht. Der Hans-im-Glück James Dixon zögert ja jedesmal so lange, bis das Glück schon fast vorbeigeweht ist, bevor er es im allerletzten Moment dann doch noch zu fassen kriegt.

„Du hältst an deiner kleinen Affäre mit Bertrand fest, weil du glaubst, dass das aufs Ganze gesehen und trotz der damit verbundenen Gefahren sicherer ist, als das Risiko mit mir einzugehen“, sagt Jim zu Christine, als sie beide noch fast dabei sind, aufgrund kleinbürgerlicher Bescheidenheit, „Anständigkeit“ und Feigheit ihr Lebensglück davonziehen zu lassen wie ein Schiff am Horizont (bevor sie sich im allerletzten Moment noch eines Besseren besinnen). „Du weißt, was der Haken bei ihm ist, aber du weißt nicht, welcher Haken es bei mir sein könnte. Und ich bleibe bei Margaret, weil ich nicht den Mumm habe, mich von ihr zu lösen und sie für sich selbst sorgen zu lassen. Also tue ich das, anstatt das zu tun, was ich will, weil ich nämlich Angst davor habe. Wir leiden einfach an einer kleinlichen, peinlichen Vorsicht. Man kann noch nicht einmal sagen, dass wir uns für die Nummer eins entschieden hätten.“

Es gibt viel in diesen beiden Romanen, das die lange Zeit seit ihrer ersten Publikation hervorragend überstanden hat. Die Schilderung des grauen kargen Lebens, der depressiven Atmosphäre Großbritanniens unter dem deutschen Bombardement. Diese heroische Gehemmtheit und Lebensverweigerung, die man in Larkins späterer Lyrik wiedererkennen wird (obwohl „Jill“ deren Genialität noch nicht ahnen lässt). Die Darstellung eines schon von Beginn an verunmöglichten Lebenslaufs. Moritz’ „Anton Reiser“ könnte einem einfallen. Eine Nebenfigur wie Christine in „Lucky Jim“, so genau beobachtet wie von Jane Austen oder Virginia Woolf. Die Karikaturen der Professoren an einer britischen Provinzuniversität. Jeder, der schon einmal mit dem britischen Bildungssystem zu tun hatte, weiß auf Anhieb, wie böse und wie genau das ist. Aber vor allem die wirklich beglückende Figur Jim Dixons, des komischen Hamlets, der sich immer bis zum letzten Moment auf widerwillige Anpassung, komische innere Monologe, hasserfüllt genaue Beobachtung und heimliches Grimassenschneiden beschränkt, bevor er sich dann doch noch aufrafft, sich wehrt, Ansprüche stellt – und ihm plötzlich alles gelingt.

Selten in der Literatur nach 1945 sind so ernste und wichtige gesellschaftliche Umbruchprozesse so komisch, virtuos, spannend und genau geschildert worden. Diese gut aufpolierte Neu- edition der Erstlingswerke Amis’ und Larkins – sehr ordentlich neu übersetzt von Steffen Jacobs – ist eine reine Freude.

Philip Larkin: „Jill“. Kingsley Amis: „Jim im Glück“. Aus dem Englischen von Steffen Jacobs. Gerd Haffmans bei Zweitausendundeins. Frankfurt a.M. 2010, zus. 816 Seiten, 36,80 Euro