Stadt der Selbstorganisation

Die experimentdays ’06 wollen von Freitag bis Sonntag die Chancen der Nutzung von Brach- und Freiflächen ausloten. Im Fokus stehen aber auch „kreative Zentren“, die bisher von Investitionen unberührte Nachbarschaften beleben sollen

VON ELISA T. BERTUZZO

Flächen, auf denen innovative Ideen neue Möglichkeiten schaffen, das sind die experimentcity-Projekte: Kunsthäuser, die Wirtschaftsstrukturen in nutzungsarmen Gebieten aktivieren, Wohnprojekte, die attraktive Alternativen in der Innenstadt schaffen, Gartenprojekte, die soziale Solidarität und gegenseitiges Kennenlernen fördern. Ein Jahr ist nach der letzten experimentcity-Projektbörse vergangen, und in Berlin scheint sich vordergründig wenig verändert zu haben. Wie gewohnt ist die Stadt reich an Brachflächen, an Kreativen, die diese zu Freiräumen erklären, also an Potenzialen, die Berlin zu einem Magneten für Künstler, Alternativen, aber auch für Investoren machen. Unverändert bleibt aber auch Berlins Kassenpleite, ganz unabhängig von der politischen Konstellation nach der Wahl.

Aber hat sich hinter dieser Fassade nicht vielleicht doch etwas verändert? Gehen wir einen Schritt zurück: 2005, in der Akademie der Künste, hat die Tagung und Projektbörse experimentcity unter dem Motto Freiräume bestätigt, dass Berlin experimentelle Dimensionen hat. 2006 ist aus dem eintägigen Event nun eine Veranstaltungsreihe – die experimentdays ’06 – geworden, die zwischen dem 22. und 24. September mit dem neuen Motto „berlin: selbstorganisiert!“ stattfinden sollen.

Also doch Veränderungen. Neu ist etwa der Veranstaltungsraum für die Projektbörse, denn die mehr als 50 Kunst- und Kulturinitiativen, Wohnprojekte, Baugemeinschaften und -genossenschaften, Grün- und Freirauminitiativen, Netzwerke, Beratungsstellen und Architekturbüros präsentieren sich 2006 im Kühlhaus am Gleisdreieck. Im seit rund zehn Jahren leer stehenden, denkmalgeschützten Gebäude haben die Initiatoren ein ideales Beispiel der Berliner Gabe gefunden, Chancen zu sehen, da wo sie keiner vermutet. Der Besitzer des Kühlhauses, der das 100 Jahre alte Haus gekauft hat, um es vor dem Niedergang zu retten, glaubt an eine neue Nutzung und wünscht sich darin nicht nur ökonomische, sondern auch kreative Aktivitäten. Damit wären wir schon bei einem weiteren neuen Thema der Berliner Stadtentwicklung. Spätestens seitdem die Senatsverwaltung für Wirtschaft im vergangenem Jahr mit der Erklärung Berlins zur Unesco-Stadt des Designs die Bedeutung der kreativen Branchen betont hat, sind Kulturwirtschaftsberichte eine der beliebtesten Lektüren nicht nur für die Stadtentwicklungspolitik geworden.

Im Fokus stehen die so genannten „kreativen Zentren“, von denen man sich positive Auswirkungen auf die Lokalwirtschaften in bisher von Investitionswellen unberührten Kiezen verspricht. Bereits mit der Projektbörse im Vorjahr hat experimentcity die Bedeutung dieser Initiativen und Projekte hervorgehoben. Im Laufe des vergangenen Jahres hat es in einer Online-Database (www.experimentcity.net) Interviews mit einer Vielzahl solcher „kreativen Zentren“ veröffentlicht: Zu Wort kommen das Kunsthaus Tacheles in Mitte, Christiania im Wedding, Heikonaut in Lichtenberg oder die ufaFabrik in Tempelhof, weitere folgen. Dabei wurde nicht nur die positive Auswirkung auf die lokalen Wirtschaftsgefüge oder auf Berlins Image betont.

id22, das Institut für kreative Nachhaltigkeit, das experimentcity koordiniert, schließt sich dem jüngsten Enthusiasmus für die kreative Branche zwar prinzipiell an, fordert gleichzeitig aber auch die Anerkennung nachhaltiger Stadtentwicklungsprojekte, auch wenn sie in die Kulturwirtschaftsberichte nicht immer hineinpassen. Seit seiner Gründung nimmt sich das Institut vor, die Prinzipien der Agenda 21 in Berlin anhand konkreter Beispiele zu verankern. Es geht um mehr Demokratie und Transparenz, ökonomische sowie ökologische Gerechtigkeit, aber auch um eine Stadt der Kreativität und Vielfalt.

Mit dem neuen Motto zu den experimentdays ’06, „berlin: selbstorganisiert!“, will experimentcity die Lehren der letzten Jahre bündeln, indem es Berlin als Stadt der Selbstorganisation wahrnimmt. Denn in ihrem Alltag handeln die Berliner vielleicht am besten in eigener Regie. Selbst organisiert sind Initiativen wie Berliner Unterwelten e.V., die aus einer originellen Liebe für die Berliner Geschichte nach deren vergessenen Spuren im Untergrund sucht. Oder die Zwischennutzungsagentur, die von Architektinnen gegründete Agentur zur Vermittlung von Leerstand für künstlerische Vorhaben, welche im Neuköllner Reuterquartier eine Blüte an neuen Läden hervorbrachte. Selbstorganisation ist auch der Leitgedanke des Mietshäuser-Syndikats: Der deutschlandweite Verbund hilft gemeinschaftlichen Wohnprojekten dabei, das eigene Haus dem Immobilienmarkt zu entziehen und dessen Fortbestehen langfristig zu sichern.

Die neue Database von experimentcity nimmt die Erfahrungen von Wohnprojekten und neue Ansätze für Baugemeinschaften auf. Wie der im Juni veröffentlichte Bericht des Stadtforums Berlin („Perspektiven für Berlin – Strategien und Leitprojekte“) zeigt, sieht auch die Verwaltung in Baugruppen, -gemeinschaften und -genossenschaften eine wirksame Chance zur Wiederbelebung des Stadtzentrums, dessen Baulücken geschlossen werden sollen. Trotzdem bemängeln die Initiativen, dass die Information über Angebote und Wettbewerbe noch schleppend verläuft, die Vergabe von Grundstücken im Allgemeinen nicht transparent genug ist und dass die starren Vorschriften auch bestens Motivierte oft abschrecken. Um über diese Themen gemeinsam zu diskutieren und Strukturen neu zu gestalten, eröffnet am Freitag, dem 22. September, eine Diskussionsrunde die experimentdays ’06. Hier sollen Staatssekretärin Hella Dünger-Löper und Reiner Nagel (Abteilungsleiter Stadt- und Freiraumplanung, SenStadt) Vorschläge und Erfahrungen der Initiativen sammeln.

Den neuen Wegen des Dialogs zwischen Verwaltung und Projekten sollen die topografischen Wege zu alten und neuen Initiativen rund um Berlin entsprechen. Diese haben sich selbst vernetzt und ein reiches Angebot an Aktionen, Ausstellungen, Führungen für Samstag, den 23. September, zusammengestellt. So will das Netzwerk von experimentcity die Vielfalt der Interessen der Berliner ansprechen und an konkreten Beispielen zeigen, was es bedeutet, wenn es von Kulturen einer nachhaltigen Stadtentwicklung spricht.

Die Autorin ist Stadtsoziologin und engagiert sich für experimentcity