PETER UNFRIED über CHARTS
: Die L-Frage

Die Charts heute mit der Nummer-1-Frage des Jahres: Müssen wir unseren Lebensstil nicht überdenken?

Letzte Woche las ich in einer Art Zeitung, ein Bundestagsabgeordneter habe die Deutschen „aufgerufen“, ihren Lebensstil ernsthaft zu überdenken. Ich rief ihn an, und er sagte mir, nein, aufgerufen habe er die Deutschen nicht. Aber ja, er wolle sich die „Tabuisierung der Lebensstilfrage“ nicht mehr länger gefallen lassen. Er sagt, es sei eine Lebenslüge der Menschen und speziell der Grünen und noch spezieller der grünen Spitzenpolitik, so zu tun, als könne man Klimawechsel und andere ökologische Katastrophen mit „ökologischer Modernisierung“ in den Griff bekommen. Lebensstilfrage stellen heißt, vereinfacht dargestellt, die Leute dazu anzuhalten, energieeffizient und umweltbewusst zu leben und sich zu bewegen.

Ökologische Modernisierung heißt, vereinfacht dargestellt, dass das Problem technologisch oder wie auch immer schön erledigt wird, während wir in Urlaub fliegen. Und Politik ist, wenn man weiß, wovon die Welt untergeht. Aber man das Gefühl hat, dass das beim Wähler nicht gut ankommt und lieber die Schnauze hält.

„Wir müssen uns die Frage stellen“, sagt aber Thilo Hoppe aus Aurich, „ob es jedes Jahr ein Urlaubsflug sein muss.“ Und dass er um Gottes Willen nicht moralinsauer oder ein strickender Grüner sei. Dass man für so eine vernünftige Überlegung von Bild schnell mal als „Verlierer des Tages“ abgestraft wird, dürfte allgemein bekannt sein. Bedenklich wäre es aber erst, wenn die Großen Vier der Grünen auch eine derartige Auszeichnung vergäben, wenn jemand eine selbstverständliche Position vertritt in einem Bereich, den die Partei „die drängendste Frage der Gegenwart“ nennt. Aber das kann sich ein normaler Mensch nicht vorstellen. Allerdings kann man sich auch nicht vorstellen, dass Leute einen halben Zukunftskongress mit Krisenmanagement verbringen, nur weil ein Herr Berninger nahe liegende machtstrategische Alternativen auslotet.

Dass Politstrategen abwägen, was Wählern „zumutbar“ ist, gehört zum Handwerk. Man muss auch zugeben, dass ausgerechnet Fritz Kuhn beim Zukunftskongress Worte gefunden hat, die den aseptischen Raum des Technologischen überwunden haben, speziell mit seiner Formel: „Wir produzieren falsch, wir bauen falsch und wohnen falsch, wir bewegen uns falsch, und wir ernähren uns falsch.“ Nur: Über was reden wir denn hier? Die Pendlerpauschale? Und über wen? Wenn man nicht mal mehr potenziellen Wählern der Grünen sagen kann, dass sie sich jetzt und persönlich dem Umweltproblem stellen müssen, dann hätte Houston ein gewaltiges Problem.

Ich redete mit einem Freund über die Situation und erwähnte beiläufig, dass der Verbrauch seines alten Golfs ja auch ein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Danach hatte ich ein bisschen Angst, dass er mich jetzt für einen strickenden Öko hält. Im Gegenteil. Er sagte mir, ich sei grade in Amerika gewesen und ja wohl nicht geschwommen. Ich solle bloß die Schnauze halten. Was ich dann auch tat. Seither denke ich verstärkt nach.

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Samstagnacht, 23.02 Uhr, wurde der „Bundestrainer“ im ZDF-Sportstudio begrüßt. Hereinspaziert kam … Joachim Löw. Die Gesellschaft mag auseinanderdriften oder noch apathischer werden, eine als prioritär angekündigte wegweisende Steuerreform seit Brandt auf sich warten lassen, die Nazis in die entsiedelten Bundesländer einmarschieren und noch viel mehr. Aber das ist doch mal eine Sache, über die man sich stets aufs Neue freuen kann, wenn sie einem wieder einfällt. Joachim Löw ist Bundestrainer. Wenn so was im DFB möglich zu machen ist, dann ist auch das letzte Wort über Deutschland noch nicht gesprochen.

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DIE CHARTS IM SEPTEMBER Buch: T.C. Boyle „Talk Talk“. Boyle war zwar auch schon mal lustiger, aber wer war das nicht? Song: „Looking Out My Backdoor“ von CCR. Kino: Al Gores Klimavorlesung „An Inconvenient Truth“ läuft bald an – und ich bin gespannt, wer danach für sich noch die Lebensstilfrage tabuisiert.

Gretchenfragen? kolumne@taz.de Morgen: Adrienne Woltersdorf über OVERSEAS