Wer Türen öffnet, lässt Fliegen herein

Das heutige China ist nur mit Blick auf den großen Reformer Deng Xiaoping zu verstehen

■ ist freier Chinakorrespondent mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Umwelt und soziale Bewegungen. Er schreibt regelmäßig für die taz und zog im Jahr 2011 von Berlin nach Peking um. Gerade erschien von ihm „Macht und Moderne – Chinas großer Reformer Deng Xiaoping“.

■ 2011 veröffentlichte er „Die Gewinner der Krise – Was der Westen von China lernen kann“ (beide im Rotbuch Verlag).

Wer von Süden über den Tiananmen-Platz auf die Verbotene Stadt zugeht, sieht schon von Ferne das berühmte Porträt von Mao Zedong. Es ziert bis heute das berühmte Tor zum Kaiserpalast. Obwohl der Diktator China viele Jahre lang in Angst und Schrecken versetzt hat, vergöttern ihn viele Chinesen noch immer, vor allem auf dem Land. Aber auch in der städtischen Mittelschicht sind Mao-Devotionalien angesagt. In Pekinger Szenegeschäften werden iPhone-Hüllen mit Mao-Bildchen angeboten. Diese Ehrerbietung wird dem großen Reformer Deng Xiaoping nicht zuteil.

Doch der Schein trügt. Tatsächlich ist es Deng, dessen Geist bis heute weiterlebt: Was das Staatsverständnis betrifft, den Umgang mit Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft – die heutige Führung um Präsident Xi Jinping folgt ganz treu den „Deng-Xiaoping-Theorien“. Wer das heutige China verstehen will, muss daher zunächst Deng verstehen.

Was waren Dengs Ziele? Wie ist es ihm gelungen, das völlig verarmte Land innerhalb weniger Jahre zu einer der bedeutendsten Volkswirtschaften der Welt zu entwickeln – und das weiter unter kommunistischen Vorzeichen? Wer war Deng überhaupt?

Zu seinen sicherlich größten Leistungen zählt, einen zumindest dem Namen nach kommunistischen Staat geschaffen zu haben, der sich bis heute hält und stabil ist. Er war der Architekt des ersten Systems der Neuzeit, in dem freie Märkte erfolgreich in einem politisch unfreien Rahmen funktionieren. Deng hat es geschafft, den von Mao geschaffenen kommunistischen Machtapparat zu erhalten und gleichzeitig eine moderne Staatsform zu schaffen, die trotz des Scheiterns des Realsozialismus in anderen Teilen der Welt bis heute Bestand hat. Gucci und Prada unter Hammer und Sichel – in jeder Hinsicht widersprechen sich diese Konzepte. Deng ist damit durchgekommen.

Dieser laxe Umgang mit einer eigentlich klar definierten Weltanschauung findet sich bei ihm bereits zu Beginn seiner politischen Karriere. Schon damals war die kommunistische Idee für ihn nicht zentral. Als er in den 1920er Jahren in Frankreich als Arbeiterstudent das erste Mal mit dem kommunistischen Gedanken in Berührung kam und auf die Gruppe stieß, die später die Volksrepublik anführen sollte, war der Kommunismus für ihn nur das Mittel zum Zweck, um in diesem Kreis aufgenommen zu werden.

Auch später diente die Kommunistische Partei Deng vor allem als Machtapparat. Solange Mao herrschte, waren Klassenkampf und Kollektivierung ein unumgängliches Beiwerk, dem Deng sich zu fügen hatte. Sobald er selbst die Macht in den Händen hielt, verwässerte er diese Konzepte so sehr, dass sie keine Rolle mehr spielten. Als Helmut Schmidt bei einem Chinabesuch 1984 anmerkte, er sei gar kein Kommunist, sondern Konfuzianer, antwortete Deng nur: „Na und?“

In der heutigen Wirtschaftswelt ist Dengs Name verbunden mit dem größten Wohlstandsgewinn, den es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Kein Staatsführer vor ihm hat innerhalb so kurzer Zeit so viele Menschen aus der Armut befreit. Mit der von ihm initiierten Öffnung Chinas beschleunigte er auch den weltweiten Globalisierungsprozess wie kaum ein anderer. Heute ist die Weltwirtschaft ohne China und die Volksrepublik ohne den Rest der Welt nicht mehr vorstellbar.

Dabei hatte er nie einen Masterplan erarbeitet, sondern folgte dem Motto: „Von Stein zu Stein tastend den Fluss überqueren.“ Das bedeutete konkret: Er probierte einfach aus. Was sich bewährte, wurde fortgesetzt. Ging etwas schief, wurde es verworfen. Eine Sünde war es aus seiner Sicht nur, aus begangenen Fehlern nicht zu lernen. Auch auf diese Weise hat Deng die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Riesenreich zu entideologisieren.

Doch so weit Deng die Volksrepublik wirtschaftlich gebracht hat, die Kehrseiten des Pragmatismus zeigen sich mittlerweile mehr denn je. Die soziale Frage stand für Deng nie im Vordergrund. Im Gegenteil: Mit seinem Ausspruch „Lasst einige erst reich werden“, nahm er die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Kauf. Heute ist China das Land mit den weltweit höchsten Einkommensunterschieden. Direkt nach den USA gibt es in keinem Land so viele Dollarmilliardäre mit Ferraris, Porsches und Maseratis wie in der Volksrepublik. Auf der anderen Seite leben immer noch Millionen von Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Auf der Suche nach Arbeit sind sie gezwungen, durch das Land zu „wandern“.

Sicherlich hat Deng den extremen Gegensatz zwischen Arm und Reich, wie er heute existiert, nicht voraussehen können. Aber er hielt es auch dann nicht für nötig, zu handeln, als die Probleme anfingen, unüberschaubar zu werden. Stattdessen gab er die Losung aus, weiter auf Wachstum zu setzen, anstatt mit Sozialprogrammen die schlimmsten Auswüchse abzufedern. Ein „Rest“ an Armut müsse eben in Kauf genommen werden. An dieser Politik wird bis heute festgehalten. Immer noch wird die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit nicht als primäres Ziel gesehen. Im Gegenteil: Die Spitzenkader finden es völlig legitim, dass sie und ihre Familien sich skrupellos bereichern dürfen.

Zugleich hat Dengs Entideologisierung eine politische Beliebigkeit mit sich gebracht, die die gesamte chinesische Gesellschaft in eine tiefe Wertekrise getrieben hat. Den lange Zeit in China dominierenden Konfuzianismus, aber auch andere traditionelle Vorstellungen hatte bereits Mao weitgehend zurückgedrängt. Es gibt sie praktisch kaum noch. Neue Wertevorstellungen hat aber auch Deng nicht hervorgebracht. Vor allem junge Menschen klagen heute über eine völlige Orientierungslosigkeit.

Diese geistige Leere wirkt sich ganz konkret auf den Alltag aus: Behinderte, Kranke und alte Menschen fristen zwischen den glitzernden Fassaden in Schanghai ein kümmerliches Dasein, ohne dass sich jemand ihrer erbarmt. Immer wieder schaffen es Meldungen in die Schlagzeilen, dass Kinder auf belebten Straße von Autos überfahren werden und niemand zur Hilfe eilt. Es mangelt allenthalben an Solidarität. Außenstehende sind entsetzt, wie rücksichtslos die Menschen in China geworden sind.

Und die KP macht es vor. Zwar ist sie mit über 80 Millionen Mitgliedern so groß wie selbst zu Mao-Zeiten nicht. Aber heute treten die meisten aus Karrieregründen bei. Nur wer Mitglied ist, hat gute Chancen auf einen Aufstieg in einer Behörde oder einem Staatsunternehmen. Die kommunistische Idee spielt keine Rolle mehr.

Und auch die Staatsführung setzt sich heute aus Kadern zusammen, die hohe Partei- oder Regierungsämter besetzen, um in die eigene Tasche zu wirtschaften. Die grassierende Korruption nahm ihren Anfang unter Deng. Der meinte dazu: „Wer Türen öffnet, lässt Fliegen herein.“

Deng war ein „Reformer“. Gleichzeitig war Demokratie für Deng nie ein Ziel. Ihm fehlte der Bezug zu diesem Staatskonzept – er wurde zur Kaiserzeit geboren und setzte sich später vor allem in knallharten Machtkämpfen durch. Zu Beginn seiner Machtübernahme 1978 hatte er zwar einmal von demokratischer Mitbestimmung gesprochen. Doch er meinte damit, dass innerparteiliche Verfahren effizienter koordiniert werden sollten.

Freie Wahlen, die das Machtmonopol der KP infrage gestellt hätten, kamen für ihn nicht Betracht. Und wer es wagte, Kritik am System zu üben, dem drohte Repression. Die gipfelte im Massaker von Tiananmen. Vor 25 Jahren ließ er Panzer auffahren und den friedlichen Protest Zehntausender Studenten niederschießen. Es kam zu 2.600 Toten und über 7.000 Verletzten. An diesem Prinzip hält die heutige Führung fest: Auch sie würde ihre Macht mit Waffen verteidigen – alles im Namen der Stabilität.

Dabei stellt sich die Demokratiefrage mehr denn je. Heute geben sich Chinesen nicht mehr damit zufrieden, mit Konsumartikeln überschwemmt und auf diese Weise ruhiggestellt zu werden. Die Menschen sehnen sich nach Freiheit und Menschenwürde und wollen mitbestimmen, wie ihr Land, die Umwelt und ihre soziale Sicherheit gestaltet werden. Dass ihnen das nicht ermöglicht wird, ist ebenfalls ein Erbe Dengs.

Deng hatte 1977, eine Selbstaussage seines Vorgängers Mao aufgreifend, über sich gesagt: „Ich würde jedenfalls froh sein, wenn nach meinem Tod die kommenden Generationen mich ‚mit 30 Prozent positiv und 70 Prozent negativ‘ bewerteten.“ Das war lange vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz, dem „Platz des himmlischen Friedens“. Ob er diese 30 Prozent heute erreichen würde? Eher nicht.