„Die Kinder sind abgeschrieben“

Nach einem Jahr Hartz IV sind eine Million mehr Kinder von Armut betroffen als vorhergesagt. Es fehle an Perspektiven, sagt Sabine Walther vom Kinderschutzbund

taz: Frau Walther, in Berlin wächst der Bedarf an Kindermittagstischen. Werden Deutschlands Kinder ärmer?

Sabine Walther: Ja, auf jeden Fall. In Deutschland gibt es immer mehr arme Kinder. Das ist ein gesellschaftliches und ein politisches Problem. Vor der Einführung von Hartz IV haben wir davor gewarnt, dass die Zahl der armen Kinder in Deutschland auf 1,5 Millionen steigen wird. Nach einem Jahr müssen wir jetzt feststellen, dass sie sogar auf 2,5 Millionen gestiegen ist. In Berlin lebt mittlerweile jedes dritte Kind unterhalb der Armutsgrenze.

Was ist das für eine Armut, von der die Kinder betroffen sind?

Für viele Menschen ist es schwer verständlich, was Armut wirklich bedeutet. Sie denken, es geht darum, dass arme Kinder keine Markenklamotten haben oder die Reitstunde nicht bezahlen können. Aber darum geht es nicht. In einer Familie, die von Hartz IV lebt, bleiben für die Kinder pro Tag drei bis fünf Euro, von denen alles bezahlt werden muss: Essen, Kleidung und Busticket zum Beispiel. Da muss man sehr genau planen und Geld zurücklegen, für so einfache Sachen wie Winterschuhe.

Und das können viele Eltern nicht?

Nein, das Leben eines Erwachsenen ist doch normalerweise durch Arbeit strukturiert. Wenn man über Jahre keine Arbeit mehr hat, hängt es von einem selber ab, die Selbstdisziplin aufzubringen und sein Leben zu regeln. Da kann schon das Aufstehen morgens zu einem Problem werden. Oft kommen Depressionen dazu. Viele Eltern können sich dann um ihre Kinder einfach nicht mehr richtig kümmern. Da wird der Fernseher zum Babysitter und die Kinder sind auf sich allein gestellt.

Wenn die Eltern ihr eigenes Leben nicht mehr regeln können, wo bleiben dann die Kinder?

Die Kinder finden von alleine aus so einem Leben nicht heraus. Das ist nicht nur ein Problem der Eltern, sondern der ganzen Gesellschaft: Wir schreiben hier einen Teil jeder Generation ab. Von den Kindern, die in so einem armen und depressiven Umfeld aufwachsen, werden viele später aggressiv oder sogar kriminell. Das ist der männliche Weg. Und die Mädchen werden schwanger. Sie bekommen dieselben armen Kinder, die sie einmal waren. Die neuen Armen sind zu einem Großteil die Kinder der alten Armen. Sie kommen aus dem Teufelskreis einfach nicht mehr raus. Selbst wenn sie es versuchen, werden sie einfach zu wenig unterstützt.

Was bietet denn die Gesellschaft diesen Kindern?

Gar nichts. Vor 20 Jahren gab es in Berlin noch genug Möglichkeiten, auch ohne Qualifizierung einen Arbeitsplatz zu kriegen. Den gibt es heute nicht mehr. Die Gesellschaft hat diese Kinder abgeschrieben. Und die wissen das ganz genau. Wenn man solche Kinder nach ihrer Zukunft fragt, sagen sie nicht Pilot oder Krankenschwester. Sie wissen, wie sie ihre Zukunft verbringen werden: als Sozialhilfeempfänger.

INTERVIEW: SOPHIE HAARHAUS