BERLINS GRÜNE SCHEINEN LIBERALER ALS DIE FDP UND SOZIALER ALS DIE LINKE
: Elastische Pragmatiker

Die Berliner Grünen sind euphorisch. Einiges spricht dafür, dass Berlin demnächst wieder Rot-Grün regiert wird und sich das entsetzliche Intermezzo der grünen Machtabstinenz in Bund- und Land gen Ende neigt. Steht also eine Renaissance der rot-grünen Ära bevor, die vor einem Jahr kalt beendet worden war?

Eher nicht. Machttaktisch wird auch ein rot-grüner Senat nichts daran ändern, dass im Bund weiterhin nur die große Koalition oder Dreierbündnisse über Mehrheiten verfügen. Auffällig ist auch, dass die Aussicht auf Rot-Grün jenseits der Parteizentralen eher ein Achselzucken als einen Hauch von Euphorie auslöst. Pragmatismus überall. Ein rot-grünes Projekt, das die politischen Leidenschaften entzünden könnte, ist nicht in Sicht.

Der grandiose Wahlsieg, den die Grünen nach Baden-Württemberg nun auch in Berlin erzielt haben, erklärt sich zum Teil aus einem banalen Grund. Im Bund regiert eine zunehmend unbeliebtere große Koalition – das hilft, gewissermaßen naturgemäß, den kleinen Parteien. Davon profitieren die Grünen, die als Opposition wieder ein bisschen „anti“ sein dürfen, aber nur ein bisschen.

In Berlin fußt ihr Erfolg zudem auf einer geschickten Mogelei. Sie haben es verstanden, widersprüchliche Botschaften auszusenden, ohne dass ihnen dies als Glaubwürdigkeitsmalus angerechnet wurde. Die Grünen waren links und rechts von dem rot-roten Senat. Mal präsentierten sie sich liberaler als die FDP, mal sozialer als die Linkspartei, die den unumgänglichen Sparkurs im bankrotten Berlin diszipliniert exekutierte. Genau diese Taktik hat den Grünen den Sieg beschert. Die Partei wurde von bürgerlichen Liberalen, die lieber noch viel mehr Staatseigentum privatisieren wollen, gewählt – und von Linken, die Rot-Rot für unsozial halten.

Zu diesem bemerkenswerten Spagat ist derzeit wohl nur das genügsame, leidgeprüfte grüne Milieu in der Lage. Jedenfalls in der Opposition. Dass dieser Spagat auch klappt, wenn die Grünen regieren, ist zumindest fraglich. Zumal bei nur einer Stimme Mehrheit. STEFAN REINECKE