Abschied von der schmerzfreien Therapie

Die meisten Nachwenderegierungen in Ungarn haben sich um notwendige Reformen gedrückt

Zwei Monate nach der erfolgreichen Wahl kam das Sparpaket mit bösen Überraschungen

WIEN taz ■ Die Ausschreitungen in Ungarn haben ihre tiefere Ursache in einer zumeist verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierungen nach dem Sturz des sozialistischen Regimes. Dabei galt Ungarn zu Beginn der 1990er-Jahre zunächst als wirtschaftlicher Musterknabe. Finanzminister Lajos Bokros sanierte unter dem sozialistischen Premier Gyula Horn den Staatshaushalt und reformierte das Pensionssystem. Das Volk wollte diesem Kurs nicht folgen. Die rechts-konservative Fidesz unter Viktor Orbán kam erstmals an die Macht (1998–2002). Orbán schwindelte sich um einen weiteren Umbau des für EU-Kriterien viel zu teuren Sozialsystems ebenso herum wie sein sozialdemokratischer Nachfolger Péter Medgyessy (2002–2004).

Das Haushaltsdefizit wuchs ebenso wie die Neuverschuldung. Vergangenes Jahr stand Ungarn mit einem Defizit von 6,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als böser Bube da. Um Euro-Reife vorzuspiegeln, manipulierte die Regierung in ihren Konvergenzberichten erfolglos die Defizitzahlen.

Im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im vergangenen April gelobte Gyurcsány zwar, den Haushalt zu sanieren, und versprach Reformen im Hochschul- und Gesundheitswesen. Doch log er, dies würde schmerzfrei über die Bühne gehen. Knappe zwei Monate nach der erfolgreichen Wahl kam dann das Sparpaket, das mit bösen Überraschungen vollgepackt war: von Steuererhöhungen über Subventionskürzungen für Gas und Strom bis zu Massenentlassungen im öffentlichen Dienst. Im Gesundheitswesen drohen Belastungen wie Rezeptgebühren und Beiträge für Arztbesuch und Spitalsaufenthalt. In zwei Jahren sollen auch noch Studiengebühren eingehoben werden. Im vergangenen Juli erhöhte die ungarische Zentralbank den Zinssatz um einen halben Prozentpunkt auf 6,75 Prozent. Dies soll helfen, die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Auch ein Anstieg der Inflation von derzeit 2,8 Prozent auf geschätzte 7 Prozent soll so verhindert werden. Ungarns Traum, bis 2010 den Euro zu übernehmen, ist dadurch deutlich getrübt worden. Die EU-Kommission kündigte gestern an, den ungarischen Plan zur Sanierung der Staatsfinanzen bis zum Monatsende zu prüfen.

Ralf Leonhard