Zwischen Akryl, UV-Lampe und Gel

KUNST Bei der Nationalen Nail Meisterschaft kämpfen Nagel-DesignerInnen um die Ehre – und die Anerkennung des Berufs. Ein Besuch

AUS DÜSSELDORF ANJA KRÜGER

Das Timing ist souverän. In 20 Minuten müssen die TeilnehmerInnen der Nationalen Nail Meisterschaften in Düsseldorf fertig sein. Seit mehr als zwei Stunden pinseln, feilen und polieren sie künstliche Fingernägel. Fast alle haben längst angefangen, den Modellen den roten Lack aufzutragen. Annika Wiesner lässt sich Zeit. Erst als alles perfekt in Form ist, beginnt sie zu lackieren. Sie arbeitet mit höchster Konzentration und Präzision. Plötzlich: ein Klack. In den letzten Minuten passiert es. Ihr bricht beim Hochglanzpolieren der Daumennagel ab. „Mist, Mist, Mist“, flucht sie wütend vor sich hin. Und macht weiter. Sie will retten, was zu retten ist.

Annika Wiesner ist die Favoritin der diesjährigen Nationalen Nail Meisterschaft. Seit 15 Jahren findet während der Düsseldorfer Messe „Beauty“ der skurril anmutende Wettbewerb statt. Hier treten 30 überwiegend jüngere Menschen an, die mit großer Ernsthaftigkeit um die Anerkennung eines Berufs kämpfen, der für viele keiner ist. Nägel machen kann jedeR, ist ein gängiges Vorurteil. Wer ein Nagelstudio betreibt, gilt nicht als HandwerkerIn, sondern steht unter Prekariatsverdacht.

Schlechtes Sozialprestige der Branche

Zweieinhalb Stunden haben die 28 Frauen und zwei Männer in dem mit hellblauen Stellwänden abgetrennten Bereich in Halle 12 Zeit, für ihr Modelle künstliche Fingernägel herzustellen und nach zwölf Kriterien zu gestalten. Sie sitzen in drei Reihen an schmalen Tischen. Material, Lampen und ihr Modell haben sie selbst mitgebracht. Die eine Hälfte stellt Kunstnägel aus Acryl, die andere aus Gel her. Annika Wiesner startet in der Acryl-Klasse. Im vergangenen Jahr hat die schlanke Frau mit den langen braunen Haaren den zweiten Platz belegt.

Die 23-Jährige ist sich über das schlechte Sozialprestige ihrer Branche im Klaren. „Die meisten glauben, wer Nail-Design macht, hat nicht viel im Kopf“, sagt sie. Annika Wiesner stammt aus einem Dorf in Bayern. „Meine Eltern haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie hörten, dass ich Nail-Designerin werden will“, berichtet sie. Nach dem Abitur hat Wiesner eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht. Ihre Eltern wollten, dass sie studiert. Doch die Tochter hatte Spaß an Nail-Design. Sie war auf den Geschmack gekommen, nachdem sie sich selbst Kunstnägel hat machen lassen. Bei Seminaren lernte Annika Wiesner ihre Kollegin Anna Pagel kennen, die Nail-Meisterin von 2013. Sie startet in diesem Jahr bei den Internationalen Nail Meisterschaften und deshalb nicht bei den Nationalen. Die beiden bauten gemeinsam ein Studio in der Düsseldorfer Innenstadt auf. „Wir sind keine Nagel-Tanten“, betont Pagel, eine der geringschätzigen Bezeichnungen über ihre Kolleginnen zitierend. Wer in ihr Studio am Worringer Platz in der Düsseldorfer Innenstadt kommt, fühlt sich an eine Arztpraxis erinnert. „Das soll auch so sein“, sagt die 33-Jährige, die gelernte Sport- und Fitnesskauffrau ist. In dem Studio arbeitet auch Christina Dopheide. „Nicht jeder Kunstnagel ist schrill und lang“, sagt die 30-Jährige. „Die meisten Kundinnen wollen natürlich gestaltete Nägel, die einige Wochen keine Arbeit machen.“ Sie ist gelernte medizinische Fußpflegerin.

Bei der Meisterschaft in Halle 12 sitzt Christina Dopheide zwei Plätze neben Annika Wiesner und stellt Gel-Nägel her. Anders als Acryl bleibt Gel weich. Deshalb müssen ihr Modell und 14 weitere Modelle ihre Hände immer wieder in kleine Apparate mit UV-Licht stecken, das das Gel härtet. Am Ende sollten alle zehn Nägel gleich aussehen, aber die Länge des Nagelbetts am kleinen Finger muss zwei Millimeter kürzer sein als das Nagelbett von Mittelfinger und Daumen. Jeder Nagel wird „gepincht“, das heißt: in eine C-Form gebracht – die Rundung muss 40 bis 50 Prozent betragen. Für die Beurteilung müssen die Nägel der einen Hand rot lackiert sein, die der anderen hochglanzpoliert.

Der Konkurrenzdruck in der Branche ist gnadenlos. Bundesweit gibt es 47.000 Kosmetikinsitute/Nail-Studios. Wie viele ausschließlich Nail-Design anbieten, wird statistisch nicht erfasst. Ebenso wenig wie die Zahl der gescheiterten Existenzgründungen. Allein in Düsseldorf gibt es rund 600 eingetragene Nail-Studios. „Als ich angefangen habe, waren es vier“, berichtet Wettbewerbsorganisatorin Stefanie Lo Re. Das war 1998.

Eine staatlich geprüfte Ausbildung

Es sind vor allem jüngere Frauen, die die Aussicht auf vermeintlich leicht verdientes Geld in die Branche lockt. Wenige Meter entfernt vom Meisterschaftsbereich in Halle 12 sitzt Diana Hattwig in legerer Jeansjacke am Stand einer Firma und formt Nägel aus dem Material, das dieses Unternehmen vertreibt. „Viele machen ein Studio auf, aber auch schnell wieder zu“, sagt die 42-Jährige. Vor ihrem Einstieg ins Fingernagel-Geschäft war sie Kfz-Mechanikerin. Heute hat sie in Voerde ein Studio und bildet unter anderem bei der Handwerkskammer Düsseldorf Nachwuchs aus. Dort können Interessierte eine Ausbildung zur staatlich geprüften Nail-Designerin machen. Hattwig wünscht sich, dass möglichst viele eine solide Ausbildung absolvieren. Rechtlich erforderlich ist das nicht, denn Nail-Designerin ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Leider, findet Hattwich. „Die schwarzen Schafe in unserer Branche sind ein Riesenproblem“, sagt sie. Manche nehmen 25 Euro für ein komplettes Nagelset. Damit könne kein Profi die Kosten decken. Profis nehmen zwischen 55 und 65 Euro für die Grundbehandlung.

Nicht nur Dumpingpreise ruinieren die Branche. „Wenn eine Kundin schlechte Erfahrungen gemacht hat, ist sie für alle verloren“, sagt Hattwig. „Wer sich in einem Studio einen entzündeten Finger geholt hat, geht nicht zum nächsten.“ Fingerspitzen und Naturnägel nicht zu verletzen ist auch bei der Nail Meisterschaft entscheidend. Vor dem Wettbewerb hat das Organisationsteam die Hände der Modelle inspiziert. Jedes hat eine Karte bekommen, auf der Verletzungen oder Verfärbungen festgehalten sind.

Pure Konzentration und Stille

Kaum ein Wort fällt während des Wettbewerbs. Nur das Piepsen der UV-Lampen ist immer wieder zu hören. Exakt nach zweieinhalb Stunden ist Schluss. Die Modelle stellen sich mit erhobenen Händen, die Karte mit den erfassten Vorschäden unter einen Finger geklemmt, vor den fensterlosen Kabinen der sechs JurorInnen auf und stecken durch eine schmale Öffnung in der Mitte die Hände. Die Bewertung aller Modelle dauert Stunden.

Bis zur Siegerehrung am späten Nachmittag jobben viele Contest-TeilnehmerInnen auf der Messe. Selbst wenn die Geschäfte gut laufen – reich wird mit einem Nail-Studio niemand. Vincenzo Russello, einer der beiden männlichen Teilnehmer, präsentiert die Materialien eines japanischen Herstellers. Seine Mutter hat vor über 20 Jahren ein Studio in Hagen eröffnet. Dort ist er eingestiegen, nachdem er Einzelhandelskaufmann gelernt und andere Jobs ausprobiert hat. „Mich reizt die Perfektion, die beim Nail-Design nötig ist“, sagt der 29-Jährige. „Und dass mir niemand etwas sagen kann.“ Auch die Aussicht darauf, selbstständig zu sein, lockt viele in die Branche.

Für EinsteigerInnen ist es schwer, qualifizierte AusbilderInnen zu identifizieren. Wer gut ist und wer schlecht, ist kaum zu erkennen. Pokale und Meisterschaftstitel jedenfalls sagen nichts über die Qualität eines Trainers oder auch eines Studios aus, sagt ausgerechnet Contest-Organisatorin Stefanie Lo Re. „Dass jemand bei einem Wettbewerb gewinnt, heißt nicht, dass er immer gut ist.“ Auch die Konkurrenz unter den Veranstaltern der Wettbewerbe ist groß. Neben den Nationalen gibt es auch noch die Deutschen Nail Meisterschaften.

Vielleicht ist Lo Res Einschätzung ein Trost für Vincenzo Russello und Christina Dopheide, die es nicht aufs Siegertreppchen geschafft haben. Annika Wiesner hat trotz abgebrochenen Daumennagels wieder den zweiten Platz geholt, fast hätte sie gewonnen. Mit 108,5 Punkten lag die neue Nationale Nail Meisterin Sabrina Siebert aus Berlin nur einen einzigen Punkt vor ihr.