die taz vor zehn jahren über deutsche ost-west-missverständisse
:

Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Die Westdeutschen zahlen Solibeitrag und müssen schrecklich sparen; die Ostdeutschen zahlen ihn auch und haben obendrein durch die überstürzte Währungsunion und die Westinteressen vertretende Treuhandpolitik Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft verloren.

Ein Abbau von Arbeitsplätzen war unter dem gewachsenen Effektivitätsdruck nötig, aber diese Dimension einer siebzigprozentigen Deindustrialisierung hat es nach der Wende in ganz Osteuropa nicht gegeben. Die Entwertung bisheriger Leistung hat natürlich auch psychische Folgen – ganz zu schweigen von dem durch den Gesetzgeber organisierten Ost-West- Immobilienkrieg („Rückgabe vor Entschädigung“), der millionenfachen Frust hinterläßt.

Die Legende, daß es zu dieser Art der Vereinigung keine Alternative gab, pflegen jene westlichen Minderheiten, die sich an der Einheit dumm und dämlich verdient haben: Banken und Industrielle, Versicherungen, Immobilienhändler und Notare. Und ihre Diener: gewisse Politiker und Journalisten. Wer glaubt, in solchen Erklärungsmustern schon wieder östliche Verschwörungstheorien zu erkennen, muß daran erinnert werden, daß die repräsentative Demokratie eine Gesellschaft institutionalisierter Interessenvertretung ist. Wer sich am besten organisiert, setzt am meisten Interessen durch. Die Ostinteressen waren wahrlich schlecht organisiert.

Und es läßt sich wohl nicht leugnen: Die neuen Bundesländer gehören mental immer noch zu Osteuropa. Und da hatte man 40 Jahre lang ein anderes Verhältnis zu Geselligkeit, zu Zeit und zu Geld. Einer meiner Sätze, die im Osten auf Anhieb verstanden und im Westen ebenso schnell mißverstanden werden, lautet: Die Erfahrung der Zweitrangigkeit von Geld ist unser Kapital. Daniela Dahn, taz, 21. 9. 96