Der Ähnlichseher von Schöneberg

Das Wahrheit-Porträt: eine Begegnung mit dem Chamäleon-Mann Maximilian Leicht

Über seinen Bruder redet er nicht gern. Der ist abgedriftet auf die Seite des Verbrechens

Seine Haut wirkt wie sehr dünnes Papier, auf dem Bibeln gedruckt werden. Nur dass sein Gesicht buchstäblich unbeschrieben ist. Nichts lässt sich darin ablesen, kein Wesenszug, keine Gemütsaufwallung. Es lässt sich gar nicht beschreiben, dieses runde und dann wieder eckige oder doch spitze Kinn; der kleine oder nicht große Mund mit den vollen, nein schmalen Lippen; die Himmelfahrtsnase, die im nächsten Moment lang und gebogen ist und ablenkt von den tief braunen, nein blauen Augen – je eindringlicher man Maximilian Leicht anschaut, desto verschwommener wird sein Gesicht, als ob man einen Stein in einen Teich wirft und sich jedes feste Bild in den Wellen auflöst.

„Guten Tag, schön Sie zu sehen“, grüßte er beim ersten Mal, und zunächst hatten wir ihn gar nicht bemerkt, als wir ihm auf der Straße begegneten und er an uns vorbeiging. Ein paar Tage später schlenderte er wieder über die Hauptstraße und grüßte erneut mit dieser genauso freundlichen wie zurückhaltenden Art. Wenige Meter später sahen wir uns an und fragten uns: Wer war das? „Der Nachbar, von früher.“ – „Nein, das ist doch der Freund von der …“ – „Ach, oder ist das …?“ So ging es eine Weile weiter, bis wir völlig ratlos waren und uns vornahmen, ihn beim nächsten Mal anzusprechen. Denn eines wussten wir genau: Er sah irgendjemandem ähnlich. Nur wem?

Maximilian Leicht ist Ähnlichseher. Aber das erfuhren wir erst Wochen später. „Ich weiß es, seit ich zwölf bin und einmal in der Schule Prügel bekam für jemand anderen“, lächelt Leicht, als wir ihn endlich dazu gebracht haben, uns seine Geschichte zu erzählen. Wir müssen uns allerdings in den ersten Minuten regelrecht zwingen, ihm zuzuhören, zu stark ist die Faszination, die von diesem unscheinbaren Mann ausgeht, der alles zu sein scheint: jung, alt, schön, hässlich, dunkel, blond, groß, klein, schmächtig, gewichtig …

„Der Trick ist: Schauen Sie für eine Minute ganz knapp an meiner rechten Seite vorbei. Dann sehe ich niemandem ähnlich, und Sie sehen mein wahres Ich“, erklärt Leicht verschwörerisch. Tatsächlich funktioniert es, und aus den Augenwinkeln mustern wir einen recht langweiligen Herrn mittleren Alters in einem grauen Anzug, ein Nichts. „Ich bin ein Chamäleon-Mann“, sagt der 35-Jährige mit stolzem Unterton und beantwortet die Frage, ob er weiß, wie seine Fähigkeit entstanden ist, ausweichend, als ob er es sich auch nicht genau erklären könne, was geschieht: „Als Kind stellt man sich doch oft vor, dass man einen Doppelgänger am anderen Ende der Welt hat, in Australien oder irgendwo. Ich wusste von Anfang an, dass der Doppelgänger ganz nah ist, in mir drin. Und nicht nur einer.“

Früher war Leicht Erfinder. Als Ingenieur für Anlagentechnik hat er ein Video-Bildsystem für Autos entwickelt. „Die Windschutzscheibe wird als großer Bildschirm genutzt. Die Autoindustrie war ganz heiß auf das Patent. Nur hatten die Autohersteller nicht bedacht, dass der Fahrer dann nichts mehr vom Verkehr draußen auf der Straße mitbekommt, weshalb die Erfindung nie die Serienreife erreichte. Aber sie sahen in mir einen neuen Gottlieb Daimler oder Ferdinand Porsche und zahlten jede Summe“, erzählt Leicht. War das nicht eine Form von Betrug? „Nun, ganz mit rechten Dingen ging das nicht zu“, verkneift sich Leicht schuldbewusst ein Lächeln, „aber sie haben es mir geradezu aufgedrängt. Und ich habe das Geld ja nicht von den Ärmsten der Armen genommen.“ Mit den Automillionen hatte Leicht ausgesorgt und konnte sich zur Ruhe setzen. Doch er wollte mehr und seinen Wohlstand nicht auf einem Unrecht aufbauen, sondern lieber mit anderen Menschen teilen. Deshalb begann er vor Jahren, für karitative Organisationen zu arbeiten.

„Heute geht es mir gut, denn ich tue etwas für die Menschen“, sagt Leicht. Er ist unterwegs für Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas oder Reporter ohne Grenzen. Er wird in Gegenden ausgesandt, in denen vereinsamte Menschen leben. „Da ist zum Beispiel eine Oma oder ein Journalist. Die meisten Journalisten haben doch jeden Kontakt zum wirklichen Leben verloren und kennen nicht mal ihre Nachbarn. Und dann komme ich vorbei, und der Journalist oder die einsame Oma leben auf, weil sie mich zu kennen glauben. Endlich ein Mensch, mit dem sie etwas zu tun haben. Der erste, seit langer Zeit, den sie überhaupt treffen. Das macht sie glücklich.“

Aber diese Fähigkeit könnte man doch auch ausnutzen, fragen wir Leicht, der bekümmert nickt und uns sein größtes Geheimnis anvertraut: Es gibt einen zweiten Ähnlichseher, seinen Zwillingsbruder, Ferdinand Leicht. Über Ferdinand redet Maximilian eigentlich nicht gern. Denn der Bruder ist abgedriftet auf die dunkle Seite. „Als Jugendliche haben wir an Ähnlichkeitswettbewerben teilgenommen, und als Studenten haben wir für eine Doppelgängeragentur gearbeitet. Das war eine tolle Zeit“, berichtet Leicht. „Doch dann ging das immer öfter schief. Einmal sollte Ferdi als Mick Jagger gehen, weil der Chef glaubte, Ferdi würde dem ähnlich sehen, und dann kommen wir auf der Party an und die Kunden waren total enttäuscht: ‚Der sieht ja aus wie unser Onkel Hermann‘, beschwerten sie sich. Ferdi nahm das sehr mit. Er wurde krank und litt an schizophrenen Schüben, und schließlich driftete er ab.“ Ein Hauch von Traurigkeit umweht Maximilians Blick, wenn er an seinen Bruder und dessen Verbrechen denkt. „Nein, ich weiß nicht, wo er ist. Er müsste eigentlich im Gefängnis sitzen, so oft, wie er verhaftet und verurteilt wurde. Aber er entkommt immer wieder, weil er für einen anderen gehalten wird.“

„Die Ähnlichkeitsforschung steckt immer noch in den Kinderschuhen“, meint Günter Angenheister vom Hamburger Institut für Realoptimierte Erkenntnistheorie. Sein Buch „Doppelkopf“ gilt als Klassiker der Similisforschung. „Sicher ist nur“, erklärt Angenheister, der etwas von der bräsig-burschikosen Art des Focus-Herausgebers Helmut Markwort hat, „dass die Dopplerdrüse im Gehirn unsere Wahrnehmung von Ähnlichkeiten beeinflusst. Die sieht übrigens der Bauchspeicheldrüse sehr ähnlich“, meint Angenheister. „Vielleicht kommen deshalb viele Entscheidungen unseres Erkennungssystems ‚aus dem Bauch‘. Bei Frauen ist das ganz besonders ausgeprägt. Die erkennen Ähnlichkeiten, wo definitiv keine sind. Frauen können einen Harzer Roller oft nicht von einem Greyezer unterscheiden“, meint Angenheister und beißt in sein Frühstücksbrötchen.

„Ach, Frauen …“, seufzt Maximilian Leicht. Er war nie verheiratet, hatte nie eine Freundin. Noch nie hat sich eine Frau in ihn verliebt, wie er behauptet. „Sie haben immer jemand anderen in mir gesehen“, schüttelt Leicht den Kopf. „Aber vielleicht ist es auch besser so. Wenn sich eine Frau in mich verliebt, und ich meine wirklich in mich, ganz tief in mir drin, dann verliere ich meine besonderen Fähigkeiten. Davon bin ich überzeugt. Und was soll ich dann bloß tun?“ Mit trüben Augen fixiert Maximilian Leicht einen weit entfernt liegenden Punkt. „Und wenn es eine Ähnlichseherin ist?“, versuchen wir ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. „Eine Ähnlichseherin?“, echot es aus ihm: „Ich habe noch keine getroffen!“ Das letzte Wort lässt er nachhallen, als ob er plötzlich eine Idee hätte. Und als er sich verabschiedet, wirkt er sehr entschlossen, diesmal in den Straßen von Schöneberg sein eigenes Glück zu finden.

MICHAEL RINGEL