DAS PRODUKTIVE ICH ALS GELUNGENE PERFORMANCE
: Zugriff auf die Lebendigkeit

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VON ARAM LINTZEL

Hochrechnungen haben ergeben, dass republikweit gesehen zurzeit mindestens täglich eine Besprechung der jüngst veröffentlichten Ernst-Jünger-Kriegstagebücher erscheinen muss. Der Hype nervt schon ein bisschen, andererseits: Nimmt nicht jeder ab einem bestimmten Alter gerne mal die Sprecherposition „Ernst Jünger“ ein? Führt nicht jeder heimlich sein immaterielles Kriegstagebuch, in dem alle lebensverändernden Erfahrungen drinstehen?

Das ist auch kommunikativ nützlich, den ein zum richtigen Moment ausgestoßenes „Ich war dabei!“ kann der ultimative Smalltalk-Trumpf sein. Ich war dabei bei diesem oder jenem Konzert, bei diesen oder jenen Randalen: Verlockend ist diese Angeber-Trope vor allem im pop- und subkulturellen Kontext, und das trotz ihrer mitunter regressiven Züge und postmoderner Authentizitätskritik.

Forrest Gump des Pop

Auch nichts daran ändern konnte James Murphy von der New Yorker Band LCD Soundsystem, der diese Sprechweise schon vor Jahren in dem Song „Losing My Edge“ karikierte. Murphy berichtet verzweifelt, wie er Forrest-Gump-mäßig an allen maßgeblichen Ereignissen der Pop-Geschichte teilhatte: „I was there at the first Can show in Cologne (…) I was there in Jamaica during the great sound clashes“ usw.

Ganz aktuell erzählt der von Ralf Zeigermann herausgegebene Fotoband „Ratinger Hof Buch“ von unwiederbringlichen Ereignissen in den Stylegewittern von Punk und New Wave die Jahre 1977 bis 1985 in einer legendären Düsseldorfer Altstadt-Kneipe. Beim Durchblättern wird deutlich: Sich-Kloppen war dort die edelste Kulturtechnik, denn der „Hof“ musste wie eine Trutzburg verteidigt werden. „Und das war’s eigentlich, das Wichtigste: die Arschlöcher waren draußen“, beschreibt Mittagspause- und Fehlfarben-Sänger Peter Hein dieses Selbstverständnis in seinem Textbeitrag. Und Male-Sänger Jürgen Engler verweist auf „die totalen Kriegserklärungen in den Songs der Bands“, typische Titel lauteten damals „Ernstfall“, „Innenstadtfront“, „Großeinsatz“. Nur durch Verpanzerung nach außen und ästhetische Disziplin nach innen konnte letztlich wohl jene „Intensität“ erreicht werden, die Diedrich Diederichsen in dem kürzlich erschienenen Reader „Kapitalistischer Realismus“ als Erfahrungsrichtschnur jener Zeit ausmacht. „Vielleicht ist man so verbunden, weil man so viel Blut, Schweiß und Tränen in diesem Laden gelassen hat“, schreibt Zeitzeuge Snoopy im „Ratinger Hof Buch“.

Längst allerdings hat die subkulturelle Intensitätshuberei ihre Unschuld verloren. In Zeiten des biopolitischen Zugriffs auf die Lebendigkeit, auf „Blut, Schweiß und Tränen“, kann leidenschaftliches Dabeisein das Anderssein nicht mehr garantieren. Ehe man es sich versieht, werden kulturelle Energien von smarten neoliberalen Regierungsformen angezapft, Phänomene wie die Zeitschrift Business Punk sind groteske Auswüchse dieser Logik. Noch die flüchtigsten Intensitäten haben kostbare „Erfahrungswerte“ zu sein, die sich früher oder später auszahlen. Statt im Kriegstagebuch landen sie eher im „biografischen Sparstrumpf“ (Diederichsen). Und dieser Strumpf wird zum Trumpf, wenn es gilt, im kapitalistischen Alltag voranzukommen.

Den „Reichtum unseres Lebens“ feiert ganz in diesem Sinne die aktuelle Ausgabe des Magazins Psychologie Heute. Dass das Leben selbst produktiv zu sein hat, legt uns schon das Cover nahe: „Mein Leben – bisher. Wie Ihre Biografie zur Kraftquelle wird“, heißt es dort. Nicht nur hier und jetzt hätte man also seine ganze Persönlichkeit einzubringen, auch die eigene Vorgeschichte soll für die gelungene Performance umgenutzt werden. Für eine verschwendete Jugend im „Hof“ bleibt in dieser retroaktiven Arbeit am Ich kaum mehr Platz.

■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Fraktion im Bundestag und freier Publizist in Berlin