Kraftwerk der Symbole

HANDARBEIT Die Londoner Tate Modern zeigt Ai Weiweis Installation „Sunflower Seeds“

Es ist wie eine Szene aus John Woos Thriller „Face/Off“. Chinas Starkünstler und politischer Aktivist Ai Weiwei ist John Travolta, und die CNN-Reporterin ist Nicholas Cage. Sie hält ihm das Mikro vor den Mund und löchert ihn mit Fragen. Er hält ihr seinen steten Begleiter, die kleine Digitalkamera, entgegen und feuert ihr aus direkter Nähe den Blitz ins Gesicht. Wie du mir, so ich dir! Dieser fast pathetische Akt des sich gegenseitigen Dokumentierens wird wiederum dokumentiert von allen herumstehenden Fotojournalisten. Die ganz besonders cleveren unter ihnen lösen sich aus dieser Traube heraus und fotografieren die Journalisten, welche Ai Weiwei dabei fotografieren, wie er die CNN-Frau fotografiert. Und eigentlich wäre das schon eine ziemlich gelungene Performance, wäre das Werk, um das es eigentlich geht, nicht noch viel irritierender.

„Sunflower Seeds“ ist ein unendlicher Teppich aus kleinen, grauen Kieselsteinchen auf dem grauen Boden der Turbinenhalle. Besucher laufen knirschend darauf herum und befinden sich inmitten eines grandiosen Lehrstücks in Fokussierung: Denn beim genaueren Hinsehen enttarnen sich die Steine als Sonnenblumenkerne. Sobald man einen hochnimmt und in den Händen wiegt, rutscht man nur noch tiefer in die Verwirrung hinein: die Kerne sind gar nicht echt. Und als man schließlich erfährt, um was es sich bei diesem Meer aus Millionen Teilchen handelt, verschlägt es jedem für einen langen Moment komplett die Sprache: Jeder einzelne dieser falschen Kerne ist aus Porzellan und handbemalt. Jeder. Handbemalt. 100 Millionen Stück von rund 1.400 Arbeitern aus Jingdezhen, über einen Zeitraum von zwei Jahren.

Hier ist der Kapitalismus

Der 1957 geborene, regimekritische Künstler wählte den Sonnenblumenkern als regelrechtes Kraftwerk an Symbolik. So war Mao auf Plakaten oft als Sonne dargestellt, die vom Volk, dargestellt als Sonnenblumen, bewundert wird. Im täglichen Leben sind Sonnenblumenkerne ein Snack der Straße, der verbindet und ablenkt, der ein bisschen satt macht und tröstet. Die Besucher der Turbinenhalle schritten andächtig über Ai Weiweis Arbeit und bewunderten diese vor allem als enorme, handgefertigte Höchstleistung. Warum machen sie das eigentlich nicht mit ihrer Strass-bestickten Tasche, ihren neuen, aufwändig zusammengenähten Sneakers oder der Mikrowelle? Ebenfalls alles: Made in China! Erst eine Arbeit wie diese wirkt da wie ein sanfter Augenöffner: Hier ist der Kapitalismus! Ist jemand zu Hause? Ai Weiwei hätte die Turbinenhalle natürlich auch voller Elektronikgeräte, Pullover, Barbiepuppen und Radiergummis stellen können. Doch er arbeitet, wie schon oft, mit Porzellan und unterstreicht mit seinen zehn Millionen Einzelstücken fast einschüchternd die Kraft des chinesischen Handwerks. JULIA GROSSE

■ Bis 2. Mai 2011, Tate Modern, London