Leiden. Nicht lernen

Die schnellste „Orestie“ aller Zeiten: Michael Thalheimer beschleunigt am Deutschen Theater die griechische Tragödie todernst bis zum Blutrausch

VON SIMONE KAEMPF

Eine Stunde 45 Minuten. Länger hat Michael Thalheimer nicht gebraucht, was zwar nicht die persönliche Bestmarke des Theaterbeschleunigers, wohl aber für das Stück ein kaum zu unterbietender Rekord sein dürfte. Ein paar Stunden mehr muss man für die „Orestie“ sonst schon mitbringen. Geduld fordert nicht nur die verwickelte Vorgeschichte vom Krieg in Troja und dem Beginn aller Schuld, sondern das antike Zeitmaß, das Inszenierungen auf ganze Tage streckte.

Nicht durch Ausmaß, aber durch Intensität wird Thalheimers Abend im Gedächtnis bleiben: ein komprimierter, aber kompromissloser Blutrausch. Irgendwann sieht man nur noch Rot. Rigoros wird in Kunstblut die Hoffnung ertränkt, dass eine Instanz der Vernunft das archaische Blutrecht ersetzen könnte.

Wer die griechische Tragödie als Geburtsstunde der politischen Demokratie, gar als Schatz der humanistischen Philosophie betrachtet, wird über den Abend fluchen wie die alten Rachegöttinnen. Thalheimer hat seine Version der „Orestie“ unerschrocken von der rationalen Großaufnahme auf das Schicksal des Einzelnen gelenkt, von den zivilisierenden Kräften auf die der Barbarei. Trotz der verspritzten Körpersäfte, deren Menge die Übelkeitsgrenze erreicht: Das ist ein so plausibler wie emotional packend gemachter Zugriff.

Olaf Altmann, Thalheimers Lieblingsbühnenbildner, hat die Bühne mit einer riesigen Sperrholzwand komplett vernagelt. Gespielt wird auf zwei schmalen Absätzen davor. Das ist eine Richtung, die Thalheimer immer wieder in seinen Inszenierungen einschlägt: nicht nach innen bohren, sondern Inneres nach außen holen. Für die Komplexität der Stoffe finden sich dann schon dringliche Bilder – dieses Mal bereits im Bühnenbild. An der Sperrholzwand glänzen tiefrot die blutigen Abdrücke von Körpern und Händen. Statement dringlicher innerer Not. Am Ende des Abends werden es noch ein paar blutige Schlieren mehr sein, die dann wieder die nächsten Zuschauer zu sehen bekommen. Ein Bühnenbild als work in progress. Das gehört zum Konzept, die Blutrache ist nicht durchbrochen. Wenn der Chor am Ende „Frieden für immer“ ausruft – so wie es schon bei der Aufführung des Stücks vor 2.500 Jahren gewesen sein muss –, dann ist das beißender Sarkasmus angesichts der aktuellen Kriegslagen. Ansonsten inszeniert Thalheimer: ernst, todernst, gleichzeitig gefühllos, ohne erlösende Abwägung der überkochenden Emotionen von Menschen, Göttern, Schicksal und Wahrheit des Einzelnen.

Agamemnon zum Beispiel opferte seine Tochter Iphigenie im Kampf gegen Troja, zögernd zwar, doch so wie es die Götter befahlen. Seine siegreiche Rückkehr soll Klytaimnestra einerseits inneren Frieden bringen, andererseits fordert sie Rache für den Tod der Tochter. Sie erschlägt Agamemnon. Noch schlimmer sitzt damit Orest in der Zwickmühle: hin und her geworfen zwischen dem Auftrag Apollons, den Vatermord zu rächen, und dem Verbot, sich an der eigenen Mutter zu vergehen.

Stefan Konarske spielt diese Entscheidungsfindung angstverkrampft bis zum Einnässen. Wie überhaupt alle Figuren ein Monogramm für erhebliche Überforderung abgeben: ratlos, hilflos. Der Frage nach Schuld und Sühne ist man nicht gewachsen.

Der 40-köpfige Chor sitzt im Rang verteilt; dass man ihm gespannt wie einem Krimi zuhört, ist ein schöner Nebeneffekt des Holz-Bühnenbilds, das das chorische Sprechen, sonst oft ein Klangbrei, glasklar verständlich macht. Dennoch bleibt das Motto „Tun, leiden, lernen“, das Zeus den Menschen auferlegt, auf der Bühne unerhört. Man leidet, aber lernt nicht. Und es ist vor allem Klytaimnestra-Darstellerin Constanze Becker, die daraus ein Leben formt: eine, die nach zehn Jahren Warten keine Zeit mehr hat und raucht, während sie noch kaut. Die ihre Rotzigkeit den Göttern gegenüber auf der Straße gelernt hat und keine Entblößung scheut. Heilige und Märtyrerin gleichzeitig, die den Abend trägt und befeuert. Ihr Anfangsauftritt ist die eindringlichste Szene des Abends. Aber das allein wäre dann doch ein zu kurzer Abend geworden.

Wieder am 25., 28., 29. 9., Deutsches Theater, Schuhmannstr. 13a, Mitte