Selbstauslöschung mit Freizeitwert

AUSLÖSER Eine Ausstellung in Braunschweig untersucht das Phänomen der Fotoschuss-Automaten auf Jahrmärkten

Die französische Tageszeitung Le Monde kürte die Ausstellung „Shoot! Fotografie existentiell“, die bereits in Arles zu sehen war, zur originellsten des Jahres 2010. Und so konnte das Organisatorenteam in Braunschweig stolz verkünden, dass die Schau weiterreist, nach London und Peking voraussichtlich. In Braunschweig ist die Ausstellung derzeit in der neuen Ausstellungshalle Raumlabor zu sehen. Produziert wurde sie vom Museum für Photographie Braunschweig und der Rencontres d’Arles.

Die Ausstellung bedient sich bei der historischen Bildausbeute der Fotoschuss-Automaten, jener kuriosen Attraktion auf den Jahrmärkten nach dem Ersten Weltkrieg. Außerdem geht es um aktuelle künstlerische Transformationen diverser Schusstechniken. Über 500 Mal werde in der Ausstellung geschossen, so Kurator Clément Chéroux. Nicht mitgezählt die Treffer in einer nachgebauten Fotoschussanlage.

Der Phänomenologe Vilém Flusser setzt die Bewegung eines fotografierenden modernen Menschen gleich mit dem Lauern des paläolithischen Jägers. Im alltäglichen Sprachgebrauch herrscht mit dem „Anvisieren“, „Nachladen“ oder dem „Shooting“ auch eine gemeinsame Terminologie beim Fotografieren und beim Schießen.

Traf bei den Fotoschuss-Automaten der Jahrmärkte ein Schütze in die Mitte der Zielscheibe, löste er eine fotografische Apparatur aus, die ihn augenblicklich in voller Aktion festhielt. Dem Duell entspringt ein Bild: Es portraitiert den Schützen – wie er auf sich selbst anlegt.

Jean-Paul Sartre sah darin die fotografische Verkörperung des Ich und gleichzeitig seine symbolische Auslöschung. Keine Frage, dass er und Simone de Beauvoir die Automaten frequentierten. Ebenso wie andere Prominente der klassischen Moderne: Man Ray mit Lee Miller, Truffaut, Fellini und viele andere sind mit Fotoschüssen in einem „Kabinett der Berühmtheiten“ vertreten.

Die ausgestellten aktuellen künstlerischen Praktiken sind vielschichtig. Noch nah am Sujet bleibt beispielsweise die Französin Emilie Pitoiset. Sie kopiert historische Fotoschüsse großformatig auf Fotopapier und zerschneidet sie anschließend, eine hypothetische Flugbahn des Projektils oder einen zerbrochenen Spiegel assoziierend. Beklemmender schon Jean-François Lecourt und Rudolf Steiner. Sie schießen scharf auf die Fotoschuss-Automaten. Ihre derart gewonnenen Portraits zeigen echte Einschlagspuren.

In einem Video von Christian Marclay kann sich der Betrachter über achteinhalb Minuten rundum und penibel choreographiert von amerikanischen Filmgrößen beschießen lassen. Schön ist es vielleicht noch Aug’ in Aug’ mit Clint Eastwood, ansonsten ist es ein wenig wie in der Ballerei eines überdimensionalen Computerspiels.

Die erhitzten Gemüter besänftigt Nikki de Saint Phalle. Ein Filmdokument zeigt ihre Arbeit mit Gipsreliefs, in denen Farb- und Flüssigkeitsbeutel verborgen sind. Durch Karabinerbeschuss bluten die Beutel aus und vollenden unter partieller Zerstörung das Objekt. So verwandelte Nikki de Saint Phalle in den 1960er Jahren den vernichtenden Akt des Schießens in einen schöpferischen Prozess.

BETTINA MARIA BROSOWSKY

bis 21. 11., Raumlabor Braunschweig