Der Anfang vom Ende

Zu Beginn seiner Abschieds-Spielzeit greift Generalintendant Klaus Pierwoß mit vollen Händen in den Unterhaltungskübel – und suggeriert , dass mit seinem Fortgang die Theaterdämmerung einsetzt

von Henning Bleyl

„Der nackte Wahnsinn“ ist eine sichere Nummer. Michael Frayns vor bald 30 Jahren geschriebener Komödien-Klassiker um ein C-Ensemble, das irgendwie eine Produktion auf die Beine stellen muss, lässt noch jedes Parkett Purzelbäume des Vergnügens schlagen. Der Vorteil der Aufführung, mit der jetzt die Schauspiel-Spielzeit eröffnet wurde: Nicolai Sykosch hat die Klamotte hervorragend in Szene gesetzt.

Eingebettet in die Als-ob-Klammer des Stücks im Stück können die ausnahmslos beklatschenswerten AkteurInnen hemmungslos die Pointen-Sau rauslassen: „Ich dachte, ich hätte einen Karton gehört, ich meine, Stimmen gesehen.“ Lustig? Ja. Noch besser: „Stell’ dir einfach vor, du wärst Schauspieler.“ Das Stück lebt von einer Auf- und Abgangsdichte à la Ohnsorg, wo der größte Spaß auch immer im nahtlosen Klinke-in-die-Hand-Geben derer besteht, die sich auf keinen Fall treffen dürfen. Anders gesagt: Das Timing ist technisch anspruchsvoll.

Selten so gelacht? In der Tat. Seine früheren Spielzeiten pflegte Pierwoß mit ernsterem Futter zu eröffnen, jetzt greift er gleich zu Beginn mit vollen Händen in den Unterhaltungs-Kübel. Immerhin wird aber – wenn auch in der Trash-Variante – die Arbeitsüberlastung am Theater thematisiert. Für seine letzte Spielzeit holt Pierwoß, der den MitarbeiterInnen gemäß seines Lieblingsmottos von der „entfesselten Produktivität“ oft viel zugemutet hat, noch einmal die wichtigsten Regisseure seiner Intendanz nach Bremen: Konstanze Lauterbach, Michael Talke, David Mouchtar-Samorai und viele andere alte Bekannte: Johann Kresnik darf da natürlich nicht fehlen. Mit den „Letzten Tagen der Menschheit“ im monströsen Bunker Valentin und den aus dem Dom vertriebenen „Zehn Geboten“ hat er für die spektakulärsten Theaterereignisse der Pierwoß’schen Intendanz gesorgt. Diesmal bringt er ein an Kafkas „Amerika“-Roman orientiertes Auswandererstück im Güterbahnhof zur Aufführung. Im Musiktheater setzt Pierwoß noch einmal die Highlights seiner Intendanz wie „La Traviata“, „Carmen“ und „Pique Dame“ aufs Programm, verbunden mit der selbstbewussten Aufforderung ans Publikum, zu kommen, „so lange das Bremer Theater noch in dieser Qualität zu erleben ist“.

Wo aber steht Bremens Theater nach zwölf Jahren Pierwoß? Mit den deutlich üppiger ausgestatteten Häusern in Hamburg oder Hannover kann man sich nicht messen, umgekehrt suchen auch wesentlich ärmere Bühnen wie Osnabrück in letzter Zeit erfolgreich den Anschluss an die norddeutsche Theateröffentlichkeit. Häuser wie das mit rund 25 Millionen Euro ähnlich bezuschusste Braunschweiger Staatstheater hingegen verweist man hingegen locker auf die künstlerischen Ränge. Nicht zuletzt im Musiktheater, wo man durch eine von Pierwoß initiierte Reihe von Auftragswerken regelmäßig überregionale Beachtung fand: Sie endet kommendes Jahr mit der Uraufführung von Sidney Corbetts „Keine Stille außer der des Windes“.

Dass das klitzekleine „Moks“, das Kinder- und Jugendtheater, die Spielzeit schon vorab mit einer zauberhaften „Zweiten Prinzessin“ eröffnen durfte, hat rein organisatorische Gründe, ist aber eine verdiente Ehre. Das Vier-Personen-Ensemble ist seit Jahren eine der kreativsten Zellen im Haus. Unter Pierwoß Nachfolger Hans-Joachim Frey soll sie enger ans „große“ Theater angeschlossen werden. Urs Dietrich zelebriert seinen Abschied als fester Leiter des Tanztheaters, das künftig eng mit Oldenburg kooperieren soll, mit den sprechenden Titeln „Voll-Da-Neben“, Schlussverkauf“ und „Infini“ – einer beispiellos opulent besetzten Rossini-Choreografie.

Ein beständiger Programmpunkt der Pierwoß’schen Intendanz war der Kampf um den Erhalt des „Concordia“ als experimentell taugliche Raumbühne – im Gegensatz zum baulich fixierten konventionellen Publikum/Bühne-Verhältnis der anderen Spielstätten. Mit Luigi Pirandellos „Riesen vom Berge“ verhandelt Pierwoß das Thema nun explizit an Ort und Stelle: Die Parabel handelt von Entertainment-orientierten Machthabern, die einer Theatertruppe gefährlich zu Leibe rücken. Für Pierwoß war das schon in der Planungsphase der Spielzeit „ein ästhetischer Kommentar zur Schließandrohung“. Mittlerweile deutet in der Tat alles daraufhin, dass der Spielort weitgehend aufgegeben wird. Der kleine „Brauhauskeller“ hingegen, darauf zumindest besteht Frey, bleibt erhalten.

Immerhin hat sich Kultursenator Jörg Kastendiek (CDU) nach einer Ortsbegehung dazu durchgerungen, mit 1,2 Millionen Euro die dringend erforderliche Sanierung des Schauspielhauses zu unterstützen. Eine Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass das Theater die vergangene Spielzeit endlich wieder mit schwarzen Zahlen abschließen konnte: Das Plus betrug 100.000 Euro. Zuvor hatte ein über Jahre gewachsenes, zum Teil bilanztechnisch verstecktes Millionen-Defizit für heftigen Streit gesorgt. Insofern geht Pierwoß in friedlicher Fulminanz.