Radikale Gesten

Vom revolutionären Potenzial des Menschen, der Sprechbühnenarbeit und der lärmenden E-Gitarre – oder wie es wäre, wenn die 70er Jahre nie vorbei gegangen wären: Nina Gühlstorff inszeniert „Die fetten Jahre sind vorbei“ in Osnabrück

Was ist übrig geblieben von den weltumkehrenden Ideen der 68er? Wo ist er hin, der auf Veränderung der Gesellschaft abzielende (Links-)Terrorismus? Vor gut drei Jahren machte er sich auf der Leinwand breit: Da zeigte uns Hans Weingartner in seinem Film „Die fetten Jahre sind vorbei“, was sein könnte, wäre die Jugend von heute nicht radikal entradikalisiert.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Stoff seinen Weg auf die Bühnen findet. Eine Woche, nachdem Gunnar Dreßlers Version in Mainz uraufgeführt worden ist, meldet sich so auch das Osnabrücker Theater damit zu Wort. Erwartungsvoll blickt hier der Theatergänger ins Programmheft, führt doch Nina Gühlstorff Regie. Mit ihrer Version von Rebekka Kricheldorfs „Schneckenportrait“ erkämpfte die 29-Jährige dem südniedersächsischen Theater vor einem Jahr die verdiente Einladung zum Heidelberger Stückemarkt.

„Geht’s euch gut?“, brüllt Jule (Julia Köhn) ins Mikrofon, greift sich die E-Gitarre und hämmert sinnlos darauf ein. Mit einem Luftsprung ist der Überfall auf die Gehörgänge schon wieder vorbei. Dann kommen die beiden Revoluzzer Jan (Laurenz Leky) und Peter (Steffen Kretzschmar). Maskiert als „Simpsons“-Figuren dreschen sie aufeinander ein, vergehen sich ebenfalls an der Gitarre und stürzen die WG-mäßige Bühne von Marouscha Levy in noch größeres Chaos.

Dieser Beginn der „Fetten Jahre“ ist nicht bloß Regietheater, wie es konventionell gesinnte Zuschauer provozieren mag: Er führt das Publikum auf eine falsche Fährte. Was wie eine sinnlose dreiköpfige Spaßgesellschaft erscheint, entpuppt sich schon bald als denkende Seele. Dass Jan und Peter nachts in Villen einbrechen, um dort außer Unordnung auch die Warnung „Die fetten Jahre sind vorbei“ zu hinterlassen, wird nicht gezeigt, sondern im Lärm der malträtierten Gitarre hinausposaunt. Stattdessen gibt es eine talkshowgemäße Diskussion zwischen den dreien und ihrem Entführungsopfer Hardenberg, dem reichen Typen, der Jan und Jule beim Einbruch in seine Villa überrascht hat.

Einen Höhepunkt erreicht die Inszenierung, wenn sie aus der Handlung ausschert; wenn Julia Köhn, die die Jule herzerwärmend zickig wie tölpelhaft spielt, dem Publikum vorwirft, nur ins Theater gekommen zu sein, weil der Film so schön war. „Da müssen sie jetzt durch“, ruft sie herausfordernd und geht durch die Sitzreihen. Jetzt auch noch Mitmachtheater! Zuschaueralbträume werden Realität. Hier bricht jemand mit der Vorstellung, das Publikum dürfe in Frieden seinem Theaterverzehr nachgehen.

Dann verabschiedet sich Paul Weisman alias Hardenberg von seiner Figur und referiert über das harte Leben eines arbeitslosen freien Schauspielers. Seltsam sei es, sagt er, einen Millionär zu spielen, könne er selbst sich die Anfahrtskosten doch nur unter Mühen von der Arbeitsagentur zurückholen. Daraufhin überwältigen ihn Jan – gegeben als eine Art junger Dany-Cohn-Bendit-trifft-Matt-Damon – und Peter – sympathisch-desinteressiert –, knebeln ihn und holen ihn zurück in seine Rolle.

Gühlstorff nutzt ihre Möglichkeit, auf der Bühne weiter gehen zu können als der Film. Sie fragt nicht nur nach dem revolutionären Potenzial in den Menschen, sondern auch in der Theaterpraxis. Und schafft damit bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres mitreißendes intelligentes Theater. HEIKO OSTENDORF

nächste Vorstellungen: 1., 5. + 7. 10., 19.30 Uhr, Theater Osnabrück