Orakelspruch

„Pythia“, sprach ich, als ich in Delphi weilte,„Priesterin des Apollon, ansage mir frisch: Was dachte sich der Allianz-Vorstandschef, Als er sah, dass sein großes Bild-Interview Zu den Themen Stellenabbau, Wettbewerb,Arbeitnehmerflexibilität und Patriotismus Auf Seite zwei stand, in derselben Ausgabe,Die auf Seite eins davon kündete, Dass eine ZDF-Moderatorin ihrem Ex, Einem hessischen Landtagsabgeordneten, Von dem sie sitzengelassen worden war, Aus Rache Abführpillen in den Grapefruit-Saft Gemixt und die Unterhose des MannesMit ätzender, stinkender Salbe bestrichen habe? Schämte sich der Vorstandschef ein bisschen? Genierte er sich für die enge Nachbarschaft Seiner gutbetuchten, unbescholtenen PersonZu der stinkenden Unterhose, die Kai Diekmann Am selben Tag in der Bild-Zeitung schwenkte?“

Ich hatte zuvor, wie es das Ritual erheischte,Gebetet und auch geopfert, um mich der WorteDer Pythia als würdig zu erweisen.

Heftige Winde fuhren herauf aus dem Erdschlund, Und es erscholl ein garstig gurgelndes Grollen. Blitze durchzuckten den übel erbebenden Tempel.

Knirschend erhob ein gewaltiger Dreifuß sich, Lorbeerumkränzt, als Plattform des Tanzes Der Priesterin, die ekstatisch die Beine warf

Und erst nach gut anderthalb Stunden urplötzlich Innehielt und mich ins Auge fasste und sprach: „Wie war noch mal die Frage?“

Ich wiederholte und präzisierte sie: „Schämt sich Der Allianz-Vorstandschef für seine NäheZu einer stinkenden Bild-Zeitungs-Unterhose oder Entspricht das seinem Stil?“

Seltsam sah mich die schwitzende Priesterin an. Dann sagte sie: „Mein lieber Mann,

Da fragst du mich zu viel.“

Gerhard Henschel