Pädagogen sind keine Mechaniker

Tiere kann man dressieren, Soldaten drillen – Kinder sind etwas anderes. Eine pädagogische Replik auf Bernhard Bueb

Ob in Bild, im Spiegel oder bei Kerner-TV – „Lob der Disziplin“, Berhard Buebs neues Buch, ist in aller Munde. Die simple Botschaft: Ursache unserer Probleme sind unsere Kinder. Richtig wäre: Das Problem der Kinder sind wir Erwachsenen.

Kinder lernen am Modell. Es sind die Eltern, die rauchen, trinken und gewalttätig werden. Erwachsene sehen auch viel mehr fern als Kinder. Je älter sie sind, umso mehr: 3- bis 13-Jährige ein bis zwei Stunden am Tag, 50- bis 70-Jährige vier bis fünf Stunden täglich. Die Fernsehzeit der Jungen ist seit 15 Jahren konstant geblieben, die der Alten hat um die Hälfte zugenommen. Doch geschimpft wird über den TV-Konsum der Kinder.

Schlimm sind Buebs Verallgemeinerungen. Er hat ein negatives Bild von heutigen Kindern. In seinem Internat scheinen sich Problemfälle gesammelt zu haben: Gewalt, Drogen, Unordnung. Die Shell-Jugendstudie 2006 zeigt ein anderes Bild: „Die latenten Ängste führen bei den jungen Menschen im Alltag nicht zu Renitenz und Auflehnung, sondern vor allem zu Anpassung und extremer Leistungsorientierung. Fleiß, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Pünktlichkeit (…) stehen (…) hoch im Kurs.“

Sicher, was Bueb beklagt, gibt es alles. Aber nicht dominant. Und nicht erst seit heute. Bueb unterstellt, früher sei alles besser gewesen. Hat er vergessen, was vor fünfzig Jahren auf Schulhöfen und Straßen los war? Vielleicht hat Druck in mancher Familie und in manchem Klassenzimmer oberflächlich für mehr Ordnung gesorgt. Das war eine Friedhofsruhe, erkauft mit Demütigungen und Schuldgefühlen. Bueb hat Recht: Eine geordnete Umwelt ist wichtig. Doch Regeln müssen gemeinsam verabredet werden, nicht von oben verordnet. Und sie müssen für alle gelten. Kinder sind keine Untertanen. Regeln müssen sinnvoll sein. Pünktlichkeit und Ordnung sind keine Werte an sich.

Gefährlich sind Buebs einfache Rezepte. Konsequenz um der Konsequenz willen bringt nichts – außer Wut bei denjenigen, die ohnmächtig gehorchen müssen. Bueb hat eine mechanistische Vorstellung von Erziehung. Man könne Kinder und Jugendliche zu guten Erwachsenen „machen“. Sei hart, dann werden aus kleinen Teufeln gute Menschen. Als seien sie von Geburt an Sünder.

Vor allem sind Kinder keine Maschinen, die man programmieren kann. Was für eine Überschätzung unserer Möglichkeiten. So kann man nicht erziehen und vor allem: So darf man nicht erziehen. Tiere kann man dressieren, Soldaten drillen. Erziehung ist etwas anderes – vor allem in einer Demokratie. Selbstständig werden Kinder nur, wenn man ihnen Selbstständigkeit zutraut.

Japan und Korea haben bei Pisa besser abgeschnitten als Deutschland. Aber Deutschland gilt dort als Vorbild, weil viele unserer Schülerinnen und Schüler besser können, was man in Tests nicht einfach abfragen kann: nachdenken, eigene Ideen entwickeln, mit- statt gegeneinander arbeiten.

Es stimmt: Auch bei uns liegt vieles im Argen. Aber eine Welt ohne Probleme ist eine Illusion. Erziehung ist schwierig – und war es immer. Was große pädagogische Denker in vielen Jahrhunderten nicht auf einen Nenner bringen konnten, ist mit simplen Rezepten à la Bueb erst recht nicht zu schaffen. Menschen brauchen drei Bedingungen, um ihre Möglichkeiten positiv entwickeln zu können: Raum, wichtige Fragen selbst zu entscheiden; die Erfahrung, etwas zu können; das Gefühl, von anderen anerkannt zu werden – so wie sie sind.

Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Respekt können wir von Kindern nur erwarten, wenn wir sie respektieren. Indem wir sie ernst nehmen. Und ihre Rechte, die mit der UN-Kinderkonvention 1989 auch von Deutschland akzeptiert worden sind.

HANS BRÜGELMANN

Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen