Der EU-Kommissar und die Zwangsprostituierte

Jan Jochymski hat „Orpheus, Illegal“ von Juri Andruchowytsch in Leipzig inszeniert: eine beklemmende, witzige und überraschend klischeefreie Groteske über die Festung Europa

„Von wem geht in der Bundesrepublik Deutschland alle Staatsgewalt aus?“ Die junge Frau im Sommerkleid steht händeringend auf der Treppe und hat keine Ahnung. „Eine Stufe zurück“, schnarrt der sie verhörende Funktionsträger (Thomas Dehler) mit einen Anflug bösartigen Genusses und fährt lustvoll fort: „Was verstehen Sie unter dem Begriff Reformation, und wer hat sie eingeleitet?“

Die makabre Veranstaltung, der wir hier beiwohnen, heißt „Einbürgerungstest“ – und steht am Beginn von Jan Jochymskis großartiger Inszenierung „Orpheus, Illegal“ in der Neuen Szene des Schauspiels Leipzig. Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch – weithin für seine scharfsichtigen Essays und Romane bekannt – hat mit dieser Groteske sein erstes Theaterstück vorgelegt; eine schräge Mixtur aus Liebesgeschichte, Agentenkomödie und Politfarce.

Der Dichter Stanislaw Perfetzki (Stefan Schießleder), der sich in der Pose einer Art zeitgemäßen Orpheus gefällt und übers Lyrische hinaus gern auch mit folkloristischer Aktionskunst hervortut, reist zum denkwürdigen Kongress „Europa, meine Sorge“ nach Venedig. Ein windiger Vorwand: Tatsächlich führt er ein handfestes Attentat im Schilde. Er will die Pläne der EU, sich durch den Bau einer Mauer an ihrer Ostgrenze vor der Zuwanderung „Illegaler“ zu schützen, torpedieren und verliebt sich bei dieser Gelegenheit in die auf ihn angesetzte Agentin Ada Citrina (Julia Berke). Jan Jochymski ist mit Andruchowytschs Vorlage sehr frei umgegangen: Er hat den Text, der sich in seinem Genre- und Ebenenreichtum bisweilen zu verfransen droht, klug gestrafft und mit traumwandlerischer Sicherheit vor allem an jenen Passagen gespart, in denen Perfetzki zu einer gewissen agitatorischen Parolenhaftigkeit neigt.

Dafür scheint sich sein Ensemble das Stück in gemeinsamen Improvisationen regelrecht zugeeignet zu haben – ein Verfahren, das schon frühe Inszenierungen Jochymskis etwa im kleiner Berliner Theater unterm Dach zu einem Hochgenuss machte. Herausgekommen sind Bilder und Szenen, die – wie der Einbürgerungstest – über die Textvorlage weit hinausgehen und sie dabei gleichzeitig punktgenau in ihrer Essenz treffen: eine Qualität, die in der aktuellen Theaterlandschaft Seltenheitswert besitzt!

Als einer der Höhepunkte darf zweifellos die Deklamation eines deutschen Gedichtes von nicht eben Goethe’schem Wurf, dafür aber mit fröhlicher Anhäufung komplexer Genitivkonstruktionen gelten, das ein verschüchterter ukrainischer Flüchtlingschor mit billigen Hochglanzjogginghosen und Jeansröcken unter dem sadistischen Dirigat des besagten Funktionsträgers darbringen muss. Oder jene Szene, in der der EU-Kommissar und Mauerbeauftragte auf höchster Ebene Dr. Schäfer (Armin Dillenberger) eine ukrainische Zwangsprostituierte (Lissa Schwerm) tyrannisiert: Jochymski lässt die junge Frau – angefeuert von Dr. Schäfer, der seine linke Hand in der Hose und die rechte an der Videokamera hat – einfach bis zum Ohnmachtsanfall einen Luftballon aufblasen. Ein Bild, das mit hoher Wahrscheinlichkeit viel beklemmender ist, als eine platte Akt-, Bett- oder Peitschszene je sein könnte.

Denn das Brillante an den Übersetzungen und Verdichtungen, die Jochymski und sein durchweg umwerfendes Schauspielerensemble für Andruchowytschs Text gefunden haben, ist, dass sie jedem erniedrigend ausgelieferten „Illegalen“, jedem gewissenlosen Dr. Schäfer, jedem leidenschaftlich moralisierenden Perfetzki eine Art Überschuss zugestehen; etwas, das nicht in voreiligen Festschreibungen aufgeht. Der EU-Kommissar und die ukrainische Zwangsprostituierte: Wie vielen Regisseuren und Schauspielern gelingt so eine Konstellation, ohne dass dreimal dick unterstrichen „Klischee“ draufsteht?

Im gleichen Maße hat Jochymski das seltene Kunststück geschafft, einen scharfsichtigen Kommentar zur EU-Politik mit einer ganz und gar klischeefreien Dreiecksliebesgeschichte, Flüchtlingsschicksale, die einen dreimal schlucken lassen, mit auf höchstem Niveau unterhaltsamen Slapstick-Einlagen und einer subtil ironischen Narzissmus-Studie des zeitgeistigen Künstlers zu verbinden: eineinhalb Stunden modernes Theaterglück! CHRISTINE WAHL