: Treffer aus nichtigem Anlass
MONAT DER FOTOGRAFIE Unter dem Motto „Moderne Zeiten, neue Bilder“ laden rekordverdächtige 140 Fotoausstellungen dazu ein, sich ein umfassenden Bild zur Geschichte des Mediums wie zum aktuellen State of the Art zu machen
VON BRIGITTE WERNEBURG
Die mächtige, sonnenbeschienene Brandmauer ist bildfüllend aufgenommen, sie gehört, so sagt es der Bildtitel, in den Wedding des Jahres 1954. Ganz hoch oben wurde die Mauer für ein kleines Fenster durchgebrochen, aus dem ein Mann auf den Fotografen beziehungsweise nun auf die Betrachter und Betrachterinnen herabschaut.
Das Bild macht einen unmittelbar staunen – und dabei weiß man gar nicht so recht, warum. Die Szene schaut pittoresk aus und auch ein bisschen komisch, so wie der Mann ganz da oben, wie eine Briefmarke, in der Mauer klebt. Sie ist von einem Riss durchzogen, der genau über das Fenster verläuft und wie ein Blitz in den Mann von oben hinein und unten herauszufahren scheint.
Der Mauerrissblitz fährt an seinem Ende in einen Schutthaufen hinein. Die Szenerie könnte auf die Nachkriegssituation hindeuten. Und so empfand der Fotograf wohl selbst diesen Riss in der Wand vor allem als Symbol der zerteilten Stadt. Aber wenn man ehrlich ist: Derartige Brandmauern und Schutthaufen lassen sich auch heute noch finden, dort, wo gebaut wird. Nein, je länger man diese Fotografie bestaunt, desto weniger sagt sie etwas über ihre Entstehungszeit und ihren Entstehungsort aus. Sie spricht allein von der Magie der Fotografie. Vom andauernden Glanz der unverwechselbaren Form des Treffers aus nichtigem Anlass heraus.
Er stammt von Arno Fischer, der in diesem Jahr mit dem Hannah-Höch-Preis des Berliner Senats für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Aus diesem Anlass hat nun die Berlinische Galerie den 4. Europäischen Monat der Fotografie mit einer Einzelausstellung des ehemaligen Ostberliner Fotografen eröffnet, der als Lehrer wie als Hausfotograf der Modezeitschrift Sibylle von gar nicht zu überschätzendem Einfluss auf die freie Fotografenszene der DDR war.
Neben Fischer beherbergt die BG auch „Mutations III“, das gemeinsame Projekt der sieben europäischen Partnerstädte des Monats der Fotografie (MdF), das die Experimentalfelder der zeitgenössischen Fotografie vorstellt. Dazu kommen – weil der MdF unter dem Thema „Moderne Zeiten, neue Bilder – Fotografie und Modernisierung“ steht – Deutschlandbilder aus den 1920er Jahren, in denen just dieser Modernisierungsprozess am Anfang des vergangenen Jahrhunderts dokumentiert wurde. Sie stammen von dem Londoner Fotografen Emil Otto Hoppé über den Kurt Tucholsky 1929 sagte: „E.O.Hoppé, der Saubere. Wie blitzblank ist das gemacht, wie sitzt das, wie senkt das Auge sich in die Welt! Das ist ein Großer.“
Eine Große ist auch Nan Goldin, ebenfalls in der BG zu sehen, oder Barbara Klemm bei Kicken, und ein ganz Großer ist Garry Winogrand, dessen „Women are Beautiful“ Camera Works präsentiert. Rund 140 Ausstellungen versammelt der 4. Europäische Monat der Fotografie bis zum 28. November in Berlin und es lassen sich also die vielen vielen Großen gar nicht aufzählen und all die Entdeckungen, die möglich sind. Aber ein paar Ausstellungen darf man wirklich nicht versäumen: Michael Wolf und seine „Tokyo Compression“ bei 25Books. Die Stadt ist Wolfs großes Thema und in Tokio hat er sich nun in die U-Bahn gestellt, wo ihm die brechendvollen Züge im Minutentakt die surrealsten Porträtbilder gequetschter Gesichter vor die Kamera fahren. In der Volkshochschule Schöneberg-Tempelhof folgt Enrico Fabian dem Weg des Abfalls von Neu-Delhi. Und die Kominek Gallery stellt die niederländische Fotografin Viviane Sassen aus, die in ihrer „Flamboya“-Fotoserie junge Afrikaner porträtiert hat. Die Aufnahmen bestechen durch den riskanten Aufnahmestil der Fotografin, der sich den Genreanforderungen weitestgehend widersetzt.
Unbedingt eine Entdeckung ist Fred Herzog, der erstmalig in Deutschland bei C/O Berlin gezeigt wird. Der kanadische Fotograf ist ein Pionier der Farbfotografie, der schon Anfang der 1950er Jahre die etablierten Sehgewohnheiten und Lehrmeinungen zu unterminieren begann. Noch vor William Eggleston und Stephen Shore entdeckte er das Potenzial der Farbe für das scheinbar Bedeutungslose, Banale und Ephemere, für Supermärkte, Tankstellen, Bars und Straßenszenen. Für den Treffer aus nichtigem Anlass, dem sich die andauernde Faszination der Fotografie und ihres europäischen Monats verdankt.
■ Veranstaltungen im „Soft Solution“-MdF-Festivalzentrum der Aktionsgemeinschaft raumlaborberlin, geführte Bustouren, Kuratorenführungen etc.: www.mdf-berlin.de; Katalog von der Qualität eines Nachschlagewerks 7 Euro