Die Statik des Augenblicks

BOLSCHEWISMUS Vom Kader zum Zwangsarbeiter: Ante Ciligas großartiger Erfahrungsbericht über das stalinistische Russland

Ciliga illustriert, was andere Dissidenten fernab des Geschehens theoretisch ausarbeiteten

VON FELIX BAUM

Vergessene Klassiker der linken Bolschewismuskritik neu aufzulegen, ist nicht nur angesichts des Neobolschewismus von Intellektuellen wie Slavoj Zizek, Alain Badiou oder Dietmar Dath eine gute Sache. Im Fall des Erfahrungsberichts des jugoslawischen Kommunisten Ante Ciliga über das stalinistische Russland ist die Neuauflage zudem fast eine deutsche Erstveröffentlichung. Während Ciligas Buch, zuerst 1938 in Paris erschienen und 1940 ins Englische übersetzt, in beiden Sprachräumen ein linksradikales Standardwerk wurde, dessen präzise Beobachtungen in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) ebenso Eingang fanden wie später in Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ (1967), blieb die 1953 in einer obskuren antikommunistischen Buchreihe erschienene, stark gekürzte deutsche Übersetzung unbeachtet. Der Berliner Kleinstverlag Die Buchmacherei hat sie jetzt neu aufgelegt.

Gefängnis als Universität

Ciliga kam 1926 als hoher Funktionär der jugoslawischen KP nach Russland, und nur mit viel Glück konnte er es 1935 lebendig wieder verlassen. In diesen zehn Jahren hatte er zunächst Gelegenheit, das stalinistische Russland aus der Perspektive des privilegierten Kaders zu studieren, bevor er als dissidenter Kommunist seine Gefängnisse und Arbeitslager kennen lernte. Sein Bericht bietet ebenso Einblicke in die inneren Kreise der Macht und die Mentalität der nachwachsenden Eliten an den Kaderschulen, an denen er anfangs unterrichtete, wie in die Auseinandersetzungen unter den inhaftierten linken Oppositionellen. Das Gefängnis von Werchni-Uralsk, in dem Hunderte Oppositionelle aller Schattierungen zusammengepfercht sind, erlebt er als „eine wahre Universität der sozialen und politischen Wissenschaften – die einzige unabhängige Universität in der UdSSR“.

Weit mehr als auf die staatlichen Kommandohöhen und die Diskussionen der geschlagenen Linken blickt Ciligas auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Anhand der Figuren, denen er auf seiner Odyssee begegnet, entfaltet er ein dichtes Bild der russischen Gesellschaft, die unter dem ersten Fünfjahresplan gerade in den Strudel von Zwangskollektivierungen und brutal forcierter Industrialisierung gerät. Die Geschichten resignierter Arbeiter, zaudernder Oppositioneller und opportunistischer Parvenüs, die Charakterstudien über GPU-Schergen, Kinder der Parteifunktionäre oder in Ungnade gefallene Bolschewiki stehen stets exemplarisch für ganze Klassen und Gruppen.

Dabei entsteht ein Bild des Stalinismus als gigantisches Modernisierungsprojekt, in dem sich rohe Gewalt mit dem Versprechen einer besseren Zukunft verbindet. Ciliga beschreibt sowohl das Schicksal der ungezählten Bauern, die wegen Kartoffeldiebstahls im Konzentrationslager enden, als auch die Revolutionierung der rückständigen Dörfer durch Kino und Radio, moderne Medizin und Traktoren. Nirgends tritt ihm die Einheit von Fortschritt und Barbarei jedoch drastischer entgegen als während seiner Verbannung nach Sibirien, das sich während der Fünfjahrespläne praktisch in ein einziges riesiges Arbeitslager verwandelt. Die atemberaubende Entwicklung der Städte, von Holzindustrie, Goldgewinnung, Straßen und Kanälen baut auf den Leichenbergen von Millionen Arbeitssklaven auf. „Der Fünfjahresplan“, hält er allen Bewunderern der Entwicklung Russlands entgegen, „ ist fortschrittlich, aber nicht sozialistisch. Wenn er sich an der Zahl der Fabriken erkennen ließe, wäre der Sozialismus in Amerika längst verwirklicht.“

Von einer bloß demokratischen Stalinismuskritik unterscheidet sich Ciligas Bericht durch seine Parteilichkeit für die ausgebeuteten Klassen. Genau dies führt ihn schließlich zum Bruch mit der linken Opposition um Trotzki, der noch in der Verbannung das russische Industrialisierungstempo als Beleg für „die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsmethoden“ feiert.

Trotzkis Fehler

Trotzki, notiert Ciliga lakonisch, „ist im Grunde der Theoretiker eines Regimes, dessen Verwirklicher Stalin ist“. Anstatt die russischen Arbeiter selbst gegen das Regime zu mobilisieren, habe er nur einen Fraktionskampf innerhalb der herrschenden Elite geführt. Trotzkis Überzeugung, die im Kern sozialistische Wirtschaft Russlands werde lediglich von einer stalinistischen Bürokratie überformt, stellt sich für Ciliga angesichts der elenden Lage der Arbeiterklasse in den Fabriken und Arbeitslagern als der blanke Hohn dar. Was er in Russland vorfindet, ist kein „deformierter Arbeiterstaat“ – so die trotzkistische Formel bis heute – sondern schlicht „Staatskapitalismus“. Sein Versuch, die Entstehung dieses Regimes aus der Oktoberrevolution nachzuvollziehen, treibt ihn schließlich sogar dazu, „das Allerheiligste des Kommunismus und meiner eigenen Ideologie“ vom Sockel zu stoßen: Lenin, der mit der Machtübernahme ein „Verteidiger der Statik des Augenblicks und nicht mehr der Dynamik der Epoche“ wurde.

Ciligas Buch ist kein theoretisches. Die Fragen, die der Begriff des Staatskapitalismus aufwirft, kümmern ihn nicht weiter: Für sein Urteil genügen ihm die augenfälligen Klassenunterschiede, die vollständige Entrechtung der Arbeiter und das gigantische Heer der Sklaven im Gulag. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bot er damit jedoch eine hervorragende Illustration der theoretischen Analysen, die andere Dissidenten fernab des Geschehens ausarbeiteten – allen voran die deutsch-holländischen Rätekommunisten, die nach anfänglicher Begeisterung für den Roten Oktober zu einer vernichtenden Kritik des Bolschewismus übergingen.

■ Ante Ciliga: „Im Land der verwirrenden Lüge“. Die Buchmacherei, Berlin 2010, 300 Seiten, 12 Euro