„Was peinlich ist, interessiert mich“

Armin Petras ist der neue Intendant des Maxim Gorki Theaters. Mit ihm soll das Stadttheater in Mitte zu einer Bühne für die „Randbezirke“ werden. Ein Theater des Ostens schwebt dem 41-jährigen Petras vor, der in der DDR aufwuchs. Eröffnet wird die Saison morgen mit einer Spurensuche in zehn Stücken

Interview Katrin Bettina Müller

taz: Herr Petras, seit 1. August sind Sie Intendant am Maxim Gorki Theater. Das Gebäude sieht nach einer Zeit aus, als man der Kunst noch Tempel baute. Ist das nicht ein schweres Erbe?

Armin Petras: Das sehe ich anders. Dieses Haus zerfällt in ganz verschiedenen Zeitebenen: Der Eingang und das Foyer sind klassizistisch; in der Kantine und im Garten sieht es eher aus wie im russischen Pionierferienlager; im Zuschauerraum fühlt man sich wie in einem 60er-Jahre-DDR-Kino. Diese verschiedenen Zeitreisen, die das Gebäude mitgemacht hat und noch immer ausstrahlt, kommen mir entgegen. Ich denke, ich interessiere mich für Geschichte und Geschichten.

Das Maxim Gorki Theater liegt auf der preußischen Präsentiermeile Unter den Linden. Staatsoper, Humboldt-Universität, Neue Wache, Zeughaus, Museumsinsel sind die Nachbarn. Lässt sich damit arbeiten?

Wir wollen damit arbeiten. Wir werden dieses Jahr „Prinz Friedrich von Homburg“ von Kleist inszenieren, und da spielt das Wissen, dass Kleist hier gelebt hat und gestorben ist, eine Rolle. Wir beschäftigen uns gerade mit „Baumeister Solness“ von Ibsen, der Premiere zur Eröffnung, und deshalb haben wir nach der Baugeschichte von Berlin gefragt.

Weil die Hauptfigur Architekt ist?

Ja. Lange existierten hier nur komische kleine Fischerdörfer, bis irgendein Preuße entschied: Das wird die Hauptstadt. Es gab keinen Grund dafür, hier war nix. Wir waren neulich im Märkischen Museum, die ganze Truppe: Das ist wirklich unglaublich, dass im 19. Jahrhundert hier genau das passiert ist, was jetzt in Städten Chinas passiert – innerhalb von 30 Jahren verzehnfacht sich die Bevölkerung. Das kann man an der Architektur ablesen. Wie Mietshäuser mit drei Hinterhäusern geplant wurden, um möglichst viele Arbeiter unterzubringen.

Ist das Material für die Inszenierung?

Absolut. Total. Ich versuche immer, Texte mit Wirklichkeit zu füllen.

Sie kommen gerade von einer „Solness“-Probe. Wie sieht der Tag eines Intendanten und Regisseurs aus?

Ich versuche jetzt einen dritten Beruf zu lernen: den des Theaterleiters. Ich war zwar schon Oberspielleiter, aber noch nie für alles verantwortlich. Dieser Alltag teilt sich in ganz normale Probenzeit – mit dem Unterschied, dass alle Zeit, die vor, während und nach den Proben verfügbar bleibt, mit und im Theater verbracht wird und nach Lösungen für alle anstehenden Probleme gesucht wird. Dadurch zieht sich der Arbeitstag ein wenig: Er ist meistens zu kurz.

In den Inszenierungen ist Ihnen wichtig, das Gefühl herzustellen, das sei jetzt wie im richtigen Leben. Und dieses Gefühl durchbricht die Kunst. Wenn man so in Arbeit und den Tag an einer Institution eingespannt ist, wo begegnet einem das richtige Leben noch?

Ich arbeitete hier so viel mit Technikern, rede mit so vielen Menschen aus nichtkünstlerischen Bereichen wie noch nie. Außerdem bin ich nach 15 Jahren wieder in meine Heimatstadt zurückgekommen. Das war seltsam: Am ersten Tag dachte ich in der Kantine, die Leute wollten mich verscheißern, weil sie alle so gesprochen haben wie ich – mit Berliner Akzent.

Sie sind schon einmal in Berlin, damals Ostberlin, angekommen: 1969, als vierjähriges Kind mit ihren Eltern, die von Meschede in Nordrhein-Westfalen hier herzogen. Als junger Regisseur gingen sie 1988 dann den umgekehrten Weg. Spielt es heute für Sie eine Rolle, ob Sie sich im Westen oder Osten der Stadt bewegen?

Das ist für mich keine virtuelle Linie, sondern etwas, das sich in meinen Körper eingeschrieben hat. Ich könnte blind sagen, ich bin jetzt im Westen oder im Osten, weil ich einfach zu viele Jahre an der Mauer stand und nicht rüberkonnte.

Das Gorki-Theater hat sich in seiner Geschichte immer als ein Stadttheater verstanden. Aber kann ein Theater heute noch eine Stadt repräsentieren, die in verschiedene kulturelle Milieus zerfällt?

Es ist wichtig, ein Theater in Berlin zu haben, wo die Probleme der Berliner – wer auch immer das sein soll, ein angeschwemmtes Konglomerat von Bedürfnissen – relativ unmittelbar besprochen und gezeigt werden. Dass die Menschen, die hier leben, aus verschiedenen Ethnien, Strukturen, Altersklassen herkommen, ist kein Problem. Im Gegenteil: Das ist die Chance für unsere Arbeit, die in ganz verschiedene Richtungen gehen soll.

In der Vorschau auf die beginnende Spielzeit wird das Stadttheater ein „Botschaftsgebäude der Randbezirke“ genannt. Wow, denkt man da. Aber wie soll das funktionieren?

Mitte ist ja der einzige Nichtrandbezirk – aber hier lebt ja gar keiner. Hier sind Ministerien, Kulturtempel, hier ziehen immer mehr Geschäfte und Banken hin, leider. Die Menschen werden an den Rand gedrängt. In der Tat wollen wir mit den Menschen in den Randbezirken Theater spielen und das wieder hierhin, ins Theater, die Mitte der Stadt, transportieren.

Dieser Wunsch nach Berührung mit einem neuen Publikum: Macht denn das „neue Publikum“ da mit?

Die Furcht, dass die uns nicht wollen, habe ich nicht. Weil viele der Regisseure, Dramaturgen und Schauspieler, mit denen ich hier anfange, in dieser Hinsicht Erfahrung mitbringen. Ich war auch an ein paar Orten …

Sie meinen jetzt die Städte, in denen Sie als Regisseur gearbeitet haben: Nordhausen, Leipzig, Frankfurt (Oder), Magdeburg, Rostock, Hannover …

… und München, Hamburg, Köln, Chemnitz, Frankfurt am Main, Mannheim.

Wie findet man diese Intention im Spielplan wieder? Zum Beispiel ist „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert Teil des Eröffnungsprogramms. Wie bringt man denn Berlin 2006 mit einem Stück zusammen, das man mit Schullektüre und dem Mief der Nachkriegszeit verbindet?

Das ist die Lücke, die ich suche. Mein Lieblingsmaler ist Martin Kippenberger, meine Lieblingsserie von ihm heißt „ist nicht peinlich“. Das ist ein wichtiges Motto in meinem Arbeitsleben. All die Dinge, die den meisten, besonders der Kultur-Schickeria, peinlich sind, genau das interessiert mich – weil genau da meistens auch etwas verborgen ist. Weil es nicht hip ist. Die Autoren unseres Eröffnungsprogramms werden in Berlin alle viel zu wenig, fast gar nicht gespielt.

Aber Sie führen sie auf.

Ihre Texte sind für uns spannend: Rolf Dieter Brinkmann, Marie Luise Fleißer, Rainer W. Fassbinder, Wolfgang Borchert, Einar Schleef. Da schlage ich doch die Hände über dem Kopf zusammen, wie selten die zu sehen sind. Natürlich brechen wir da ein Stück mit der Aufführungstradition: Den Borchert wird es hier nicht so geben, wie man ihn sich vorstellt, nichts mit Militärmantel, Nickelbrille und Zweitem Weltkrieg. „Draußen vor der Tür“ spielt draußen vor der Tür, vor der Tür des Theaters und es wird um die Menschen gehen, die draußen vor der Tür sind. Es reicht natürlich nicht, zu sagen, alles was peinlich ist, machen wir. Es muss einen nächsten Schritt geben. Wieso ist das peinlich? Wieso sitzt das in der Ecke? In diesen Gefäßen, die so verbraucht von anderen Generationen wirken, findet man etwas, was wieder spannend sein kann. Vielleicht nicht immer, aber immer wieder.

Mit diesen Ausgrabungen sind Sie schon oft die Geschichte der DDR angegangen und haben auf der Bühne das Gefühl des Zuhauseseins dort rekonstruiert. Warum muss die Geschichte vom Verlust der Heimat in der DDR immer wieder erzählt werden?

Müssen muss man gar nichts, außer sterben. Aber mich ärgert, dass ein Teil der Bevölkerung – die ostdeutsche Bevölkerung – nicht vorkommt. Weder auf dem Theater noch in der Öffentlichkeit. Es sei denn als Skandal, wenn irgendwo ein Kind in einer Mülltonne gefunden wird. Die DDR ist ein Teil meiner Geschichte, nicht mehr und nicht weniger. Und diese Geschichte bleibt ein Ort, in dem ich lebe. Es gibt viele Menschen, die hier viele Jahrzehnte ins Theater gingen, für die es schön wäre, wieder Geschichten über sich zu erfahren. Es gibt einen Kanon, der immer wieder reproduziert wird, anderes wird zur Seite gefahren. Kein Mensch denkt darüber nach, sagen wir mal, den Ku’damm umzubauen – aber der Alexanderplatz muss unbedingt umgebaut werden, weil alles, was Ost war, als hässlich gilt. Dass es vielleicht verschiedene Ideen dazu gibt, was ist hässlich, fällt unter den Tisch. Das können wir im Theater verhandeln.

Sie lieben das asiatische Kino und haben in der Zeitschrift Theater heute über die Filme von Kim Ki Duk und Edward Young geschrieben. Was finden Sie da, was dem Theater fehlt?

Natürlich leiden wir wahnsinnig darunter, dass bei uns alles Pappe ist. Im Höchstfalle mal ein bisschen Wasser. Meine Sehnsucht gilt natürlich immer der Realität, auch auf der Bühne. Und in diesen asiatischen Filmen ist so viel schöne und hässliche Wirklichkeit, sind so viele traurige Menschen – da fragt man sich im Theater: „In was für einem Wachsfigurenkabinett arbeite ich eigentlich?“ Das versucht man deshalb auch immer wieder zu zerstören.

Das Maxim Gorki Theater eröffnet am 29. September mit einem Abend, an dem zehn Stücke aufgeführt werden. Warum gleich so kompakt?

Weil wir das wollen. Wir müssen zeigen, wer sind wir, was wir können. Der Abend heißt „Spurensuche“: Zusammen haben wir uns Stücke von Schleef, Brinkmann, Borchert ausgesucht, weil uns nicht nur deren Texte interessieren, sondern auch die Autoren selbst. Was die gelebt haben, auf dieser Spur wollen wir uns bewegen. Das ist auch unsere Visitenkarte und eine Ansage an die Stadt.