Begreifen, dass es funktioniert

AUS SAN MARTÍN, AVELLANEDA UND BUENOS AIRESJÜRGEN VOGT

Das Fabrikgelände der „La Forja“ wirkt aufgeräumt und verlassen. Nichts deutet darauf hin, dass hier gearbeitet wird. Nicht mal der Hund vor dem großen Eingangstor hebt den Kopf, wenn jemand vorbeigeht. Und doch ist La Forja, die Schmiede, einer von 120 Betrieben in Argentinien, die ihren ArbeiterInnen gehören.

Vor fünf Jahren hatte der Betrieb nach über einem halben Jahrhundert seine Produktion eingestellt, auch die letzten der einst 450 Mitarbeiter standen nun auf der Straße – heute produzieren hier wieder 30 Mitarbeiter Motorenteile. 80 Tonnen pro Monat. „Wenig im Vergleich zu früher, aber immerhin“, sagt Oscar Andrada.

Die Eisenschmiede von San Martín, gelegen am Rande der Hauptstadt Buenos Aires, war einmal ein Big Player in der aufstrebenden Wirtschaft des Landes. Entsprechend groß ist das Gelände, sind die Fabrikhallen, die Verwaltungsgebäude, die medizinische Abteilung und die Räume für die Belegschaft. Heute verlieren sich die Arbeiter in einer einzigen riesigen Halle.

„Eine Besetzung? Nein“

Mit der Selbstverwaltung haben sie hier vor drei Jahren angefangen. 2003 gingen sie mit einem richterlichen Beschluss in der Hand zurück in ihre Fabrik. „Eine Besetzung? Nein. Wir hatten den Schlüssel und die Erlaubnis“, sagt Oscar Andrada. Formal gehört die Fabrik noch heute der Provinz Buenos Aires, die Kooperative hat aber ein Vorkaufsrecht für die nächsten zehn Jahre.

Die Geschichte von La Forja hat sich in ganz Argentinien 120-mal wiederholt. Fabricas Recuperadas nennen sie sich, das heißt so viel wie „zurückgewonnene Fabriken“. Achtzig haben sich im Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas por los Trabajadores zusammengeschlossen, der „Nationalen Bewegung der von Arbeitern zurückgewonnenen Fabriken“. Darunter sind Metallfabriken, Motorenwerke, ein Krankenhaus, auch eine Zeitung. Um Mitglied zu werden, müssen die Arbeiter ihre Fabrik zurückhaben wollen. Sie, nicht die Unternehmer müssen die Fabrik wieder flottmachen und dabei eine Kooperative bilden, in der alle das Gleiche verdienen.

Oscar Andrada, 60, war früher Abteilungsleiter bei La Forja. Wie viele verließ er nach der Pleite die Firma. Heute arbeitet er wieder in der Kooperative. Das Ende der Firma kam damals nicht über Nacht, die Belegschaft war informiert, die Wirtschafts- und Finanzkrise wütete im ganzen Land. Als 2001 ein Großkunde wegbrach, war Schluss.

Danach lag die Fabrik zunächst verlassen, 2002 übernahm ein Konkursverwalter die Fabrik. Wachen wurden aufgestellt, damit nichts wegkam, und die Arbeiter bemühten sich beim Provinzparlament um die Übernahme ihrer früheren Fabrik. Ein Jahr später gewannen sie dort die entscheidende Abstimmung und konnten als Kooperative die Produktion wieder aufnehmen.

„Wir hatten damals keinen Peso“, erzählt Oscar Andrada, „wir mussten alles lernen, von der Buchhaltung bis zum Entwurf eines neuen Eisenteils, von der Marktanalyse bis zur Kundenakquise. Manchmal hatten wir Glück, manchmal auch nicht.“

Heute hat die Kooperative einen gewählten Präsidenten, einen Schatzmeister und einen Sekretär. Alle bekommen den gleichen Lohn – wie viel, will Andrada nicht verraten. Er dürfte aber zwischen 1.000 Pesos in schlechten und 1.500 in guten Monaten liegen, also 250 bis 375 Euro. Das ist auch in Argentinien nicht viel, aber doch deutlich mehr als der Arbeitslosen- oder Sozialhilfesatz von 100 beziehungsweise 50 Euro. Die Armutsgrenze in Argentinien liegt für eine vierköpfige Durchschnittsfamilie bei 230 Euro im Monat. Mehr als die Hälfte der 34 Millionen ArgentinierInnen muss mit weniger auskommen.

Rechtlich ist die Kooperative abgesichert. Sorgen machen den Arbeitern heute nicht mehr eine drohende Räumung oder Zwangsschließung, sondern die veralteten Maschinen, mit denen sie produzieren müssen. Geld für Investitionen haben sie keins – aber immerhin ein Einkommen, mit dem sie sich und ihre Familien ernähren können.

Pleite und Übernahme

Angefangen hatte die Übernahme-Bewegung im August 2000. Die Inflation hielt das Land im Griff, auch in Avellaneda machten damals die Fabriken dicht. Es lohnte sich schlicht nicht mehr. Avellaneda liegt im Conurbano, dem riesigen Vorstadtgürtel um Buenos Aires, der zur gleichnamigen Provinz gehört. Seit den 40er-Jahren hatte sich hier viel Industrie angesiedelt, Fabriken mit 1.000 oder 1.500 Arbeitern waren bis in die 90er-Jahre nicht selten. Luis Caro, 44, heute Vorsitzender des Movimiento, der Bewegung, war damals Delegierter der Sozialpastorale der katholischen Kirche, seine Frau arbeitete in der Stadtverwaltung.

Als die Fabriken schlossen, kamen die Arbeiter zu ihr ins Amt und fragten um Rat. Sie verwies sie an ihren Mann. „Ich hatte schon Erfahrung mit Kooperativen für Wohnungsbau“, erklärt Luis Caro. „Das funktionierte so, dass Wohnungslose Brachflächen besetzten und eine Hauskooperative gründeten.“ Oft ging der Plan auf: „Der Staat enteignete die Grundbesitzer und übergab den Boden den Besetzern. Dieses Modell nutzten wir jetzt bei den aufgegebenen Fabriken.“

Zuerst wollten die Arbeiter gar keinen eigenen Weg gehen, „sie warteten darauf, dass ein neuer Besitzer käme. Selbst die Politiker und die Gewerkschaften warteten auf Investoren. Alle meinten, Kooperativen würden nie funktionieren.“ Doch schon Anfang 2001 fingen vier Fabriken wieder an zu produzieren, Ende 2001 waren es schon über 30.

„Natürlich wurde versucht, uns zu räumen“, schildert Caro die Situation vor fünf Jahren. Aber die Bewegung setzte auf den Rechts- und Verhandlungsweg: „Es gibt ein Konkursgesetz und ein Gesetz zur Enteignung: Die Regierung enteignet den Besitzer, zahlt ihm eine Abfindung, setzt einen Konkursverwalter ein und übernimmt die Konkursmasse – aber auch die Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern. Anschließend überlässt sie die Fabrik den Arbeitern.“

Wo bleiben die Zinsen?

Heute denkt man schon weiter. Das Movimiento fordert eine Reform des Konkursrechts: Die Firma soll vom Zwangsverwalter gar nicht erst geschlossen, sondern automatisch an die Arbeiter weitergegeben werden können. Zudem benachteiligt das derzeit geltende Recht die Arbeiter gegenüber Banken und Gläubigern: Während jene im Konkursfall Anspruch auf 100 Prozent der ausstehenden Schulden plus Zinsen haben, steht den Arbeitern nur die Hälfte ihrer ausstehenden Löhne und Gehälter zu, ohne Zinsen. Das soll sich nun ändern: „Dann könnten viele Kooperativen ihre Betriebe kaufen.“ Heute gibt es in Argentinien 5.000 geschlossene Firmen. Mit der Reform könnten binnen einem Jahr 500.000 Arbeitsplätze entstehen. Das argentinische Abgeordnetenhaus hat die Reform des Konkursrechts schon beschlossen, die Zustimmung des Senats steht aber noch aus.

15 Uhr. Bei Brukman, Fabrik für Herrenbekleidung mitten in der Hauptstadt, ist Feierabend. Die ArbeiterInnen gehen nach Hause, auch Esther Valdéz. Seit 1996 arbeitet die Mittfünfzigerin bei Brukman. Brukman ist in Argentinien eine angesehene Marke. 400 MitarbeiterInnen produzierten hier einmal Anzüge und Hosen. Ab 2001 sorgten die Auseinandersetzungen um den Betrieb in Buenos Aires auch international für Schlagzeilen. Heute heißt er „Brukman – Cooperativa de Trabajo 18 de Diciembre“, Arbeitskooperative 18. Dezember.

„Eigentlich haben wir damals alle nur darauf gewartet, dass der Besitzer mit den Löhnen zurückkommt“, erinnert sich Esther Valdéz. Das war am 18. Dezember 2001. Die Belegschaft, die seit Monaten nicht bezahlt worden war, machte Druck, um noch vor Weihnachten die ausstehenden Gehälter zu bekommen. Ja, er gehe jetzt sofort zur Bank und hole Geld, sagte daraufhin der Besitzer. Er kam nie wieder.

Die Männer und Frauen von Brukman wussten nicht, was sie tun sollten. Sie beschlossen, einfach weiter zu arbeiten, in ihrer Fabrik. Drei Monate später wurden sie zum ersten Mal geräumt, das nächste Mal im November 2002. „Die Räumungen erfolgten auf richterliche Anweisung. Wir arbeiteten schließlich illegal in der Fabrik“, erzählt Esther Valdéz. Aber sie zogen vor Gericht und konnten jedes Mal wieder rein und weiterarbeiten. Im April 2003 wurden sie zum dritten Mal geräumt, diesmal ließ man sie nicht wieder zurück. Am 21. April versuchten sie es, aber die Polizei vertrieb sie mit Schlagstöcken und Tränengas. Diese Szene ist in dem Film „The Take“ von Naomi Klein zu sehen, der heute anläuft (siehe Kasten).

„Neun Monate campierten wir vor der Fabrik in Zelten“, schildert Esther Valdéz diese Zeit. Lange Zeit hatten sie von der Regierung die Verstaatlichung der Fabrik und die Kontrolle durch die ArbeiterInnen gefordert. Aber in den langen Monaten im Zelt kamen ihnen Zweifel: „Wir fingen an, den Anwälten nicht mehr zu vertrauen, die uns bis dahin beraten hatten. ‚Es ist alles in Ordnung‘, hieß es immer. Nichts war in Ordnung, wir waren dabei, alles zu verlieren.“

Sie diskutierten schließlich die Möglichkeit, eine Kooperative zu gründen. Einige KollegInnen wollten das nicht, sie forderten weiter die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle. Aber eine Kollegin setzte sich mit Luis Caro in Verbindung. „Wir bildeten einfach die Kooperative, um uns einen legalen Rahmen zu geben“, erzählt Valdéz. Per Abstimmung wurde entschieden, dem Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas beizutreten. Caro organisierte den Rechtsweg. „Am 29. Dezember 2003 betraten wir ganz legal die Fabrik und fingen wieder an zu arbeiten.“

Heute besitzt die Kooperative die Maschinen und den Markennamen Brukman – als Dauerleihgabe; das Gebäude gehört weiter der Regierung. 70 Personen arbeiten inzwischen hier, die Frauen sind knapp in der Mehrheit. „Wir alle kamen aus den Bereichen Nähen, Maschinenwartung und Bügeln. Aus der Verwaltung ist niemand geblieben. Das mussten wir uns alles selbst beibringen“, sagt Valdez. „Aber heute wird alles geteilt. Meist sind es 800 Peso, wenn es sehr gut läuft auch mal 1.200 im Monat“, so Valdéz. 200 bis 300 Euro – nicht gerade ein Managergehalt. „Aber wir mussten lernen, wie Unternehmer zu denken und zu agieren.“ Sie haben es geschafft.

Genau das, sagt Luis Caro, ist das Schwierige: Die Arbeiter müssen begreifen, dass sie tatsächlich in der Lage sind, ihre Fabrik wieder aufzumachen, dass sie dafür keinen Besitzer brauchen. „Früher wurde eine Fabrik einfach zugemacht“, sagt Caro, „heute gibt es dazu eine Alternative: uns.“