Die neuen Seiten der Claudia Roth

Die Vorsitzende der Grünen hat ihre Autobiografie vorgelegt: „Das Politische ist privat – Erinnerungen für die Zukunft.“ Eine nette Idee. Fragt sich nur: Hat Claudia Roth eine Zukunft? Ihre Gegner sagen: „Oh Gott, nein“ – ihre Fans: „Ja, zum Teufel“

Hier geht es um Leben und Tod. Selbstverständlich doch. Um einen Mann in einem Käfig, angekettet, gebückt, kauernd. Um einen gnadenlosen Staatsanwalt, „Mr. Death“. Um eine Hinrichtung, um ein Gnadengesuch und dessen Ablehnung. Hier geht es um die erschütternde, beklemmende, ungerechte, entwürdigende, erbärmliche, schreckliche, tragische, also um die finale Verletzung der Menschenrechte. Da bleibt nicht sehr viel Zeit zum Luft holen.

Die Worte und Sätze und Ausrufezeichen schleudern durch das Kellerfoyer des Berliner Kulturkaufhauses „Dussmann“, befeuert von einer hellen, aber vollen Stimme, die vor keiner Höhe passen muss. Claudia Roth spricht. Oder liest, was in diesem Fall keinen großen Unterschied bedeutet. Denn das Buch, aus dem sie vorträgt, ist Claudia Roth. Ihr Leben. Oder das, was sie als Erinnerungen an ihre politischen und privaten, auf jeden Fall immer engagierten Lebensabschnittsphasen für die Zukunft aufbereitet hat. Eine Autobiografie, die keine sein will, schließlich arbeitet die Parteivorsitzende der Grünen an allem und vielem, nur nicht an einem Schlusskapitel ihrer aktiven politischen Lebensphase.

Claudia Roth hat ihre großen Claudia-Roth-Augen streng auf die Seiten des Buches gerichtet, die goldfarbenen Pailletten zwischen den roten und pinken und grünen Blümchen auf ihrem Blaser glitzern im Scheinwerferlicht. Ab und an blickt sie über den Rand ihrer roten Lesebrille in ihre Zuhörerschaft, die in einigen Sitzreihen eine reine Zuhörerinnenschaft ist.

„Bunt. Unbestechlich. Authentisch.“ So sieht sich Claudia Roth. So sehen sie ihre Wähler, die in den ausgeprägtesten Varianten schon mal während der anschließenden Signierzeit nach mehreren Autogrammkarten und gemeinsamen Fotoaufnahmen fragen. Das ist die Roth-Credibility, die sich bei so vielen Anlässen zu einem wunderbar öffentlichkeitswirksamen Spin drehen lässt: mit Leidenschaft, Haltung und Emotion im Einsatz für die Armen, Unterdrückten, Ausgegrenzten, Benachteiligten, Diskriminierten – Minderheiten jeglicher Art. Dazu gehört der Roth-Sound, der alle bewegt und sehr viele verständlicherweise enerviert.

Claudia Roth hat keine Gelegenheitsanhänger. Sie hat Fans. Vor allem aus ihrer Generation, die um die Fünfzigjährigen, immer schon und auf jeden Fall damals in den 70ern engagiert, freundliche Gesichter, die auch bei dieser Buchpräsentation anwesend sind, zuhören, wirklich zuhören und manchmal in einem Lächeln verharren. Ein bisschen Schwelgen darf sein, wenn die alten Kommunenanekdoten aus Roths aktiver „Ton Steine Scherben“-Bandmanagerin-Zeit von älteren nackten Männern in Bädern oder von Netze der Liebe knüpfenden Frauen aus der Distanz des Heute doch eher vergangen klingen.

Alle anderen, den Rest auch der grünen Wählerschaft, hat Claudia Roth gegen sich. Menschen, die nicht immer so fesch herausgeputzt in Nadelstreifenanzug und Lackschuhen vor ihr sitzen wie ihr Gesprächspartner dieses Abends, der Michel Friedman heißt, als Herausgeber des Aufbau-Verlags zuständig ist für Roths Buch und die Präsentation moderiert. Also parodiert er perfekt den Michel-Friedman-Stil, goutiert süffisant ihre Erregung und Aufregung angesichts der Todesstrafe und empfiehlt zwischendurch den Roman „Der Drachenläufer“, als Roth von ihrem persönlichen Afghanistan-Einsatz erzählt. Aber selbst die Feinde und Gegner sind mittlerweile Teil der Roth-Credibility, sie wisse, dass sie polarisiere, aber und deswegen kämpfe sie weiter. Eine echte Marke braucht eben ihre Gegner, so viel an Überlebensstrategie im postmodernen Wettbewerb darf es gerade bei Claudia Roth sein.

„Das Politische ist privat – Erinnerungen für die Zukunft“, so steht es also auf dem Cover des Buches – eine mäßig originelle Umkehrung der urlinken Kampfparole aus der Zeit der Studentenbewegung: „Das Private ist politisch.“ Erinnerungen für die Zukunft also, fragt sich nur, für wen? Auf einen Bestsellererfolg setzt Roth jedenfalls nicht, „so um die 100 Bücher“ wolle sie verkaufen, sagt sie auf Nachfrage, während sie ihr Autogramm in üppig geschwungenen Buchstaben in die Exemplare malt. Dann lacht sie. Die Adressaten des Werkes, das nicht nur auf den zweiten Blick als programmatische Schrift im Wettstreit der grünen Parteispitzen-Profilierungs-Truppe zu lesen ist, dürfte ebenjene Partei sein. „Links ohne Dogma“ heißt ihre neue Devise, mit der sie sich zwischen den „postmodernen Beliebigkeitsironikern“ (in der eigenen Partei) und den „neokonservativen Wahrheitsbehauptern“ (der anderen Werteparteien) positionieren will. Authentische Politik für die Menschen – ihr Brand jedenfalls bleibt stimmig.

KAUFEN? Nein. Nach reiflichem Abwägen der Qualitäten hat ganz klar gewonnen: „Der Drachenläufer“.

SUSANNE LANG

Wenn Claudia Roth einen Raum betritt, ist er schon voll – auch wenn auf den Stühlen im Berliner Dussmann-Kulturkaufhaus bereits jede Menge Fans und Wegbegleiter versammelt sind, um ihren Erinnerungen Gehör zu schenken: Frauen um die 50 und Homosexuelle mittleren Alters, deren Liebe sie sich nicht nur hoch auf dem CSD-Wagen, im Dirndl winkend, sicherte, sondern vor allem aufgrund ihres beharrlichen, glaubwürdigen Einsatzes für deren Bürgerrechte. Der „Rapport Roth“ zur Gleichberechtigung der Homosexuellen, 1994 vom EU-Parlament verabschiedet, ist längst in die Geschichte eingegangen. Sie hat sich für Menschenrechte engagiert, für die Gleichstellung von Frauen, gegen Folter und für humanitäre Hilfe – und wurde dafür zur Ritterin der französischen Ehrenlegion geschlagen.

Die Ritterin im wehenden, langen roten Mantel, die viele so unglaublich peinlich finden – geradezu penetrant – weil sie noch immer diesen Ur-Grünen-Sound spazieren trägt, immer noch Rio Reiser statt Jamiroquai-Easy-Listening: Ihre Erinnerungen an die Zeit mit „Ton Steine Scherben“ sind ihr lieb und teuer – und eben auch ein Kapital, das sie und ihr Buch nach wie vor interessant macht: „Damals auf Tournee haben wir auch mal in einem Swinger-Club übernachtet.“ Sie und der Rio und all die anderen – das waren noch Zeiten, damals, als von „postmodernen Ironikern“ und „Neocons“ noch nicht die Rede war, den Feindbildern Claudia Roths, zwischen denen sie sich für die Zukunft an den Start bringt: „bunt, unbestechlich, authentisch“, so steht es auf der Rückseite des Hardcovers.

Wo Claudia draufsteht, ist auch Claudia drin: Als sie aus einem Kapitel vorliest, in dem es um die Todesstrafe in den USA geht, kommt sie vor lauter Wut und Trauer ins Stocken – sie war ja damals vor Ort, in der Death Row bei den mittlerweile hingerichteten Brüdern LaGrand. Sie hatte sie nicht retten können und das tut ihr weh: „Der menschliche Anteil bei politischen Entscheidungen geht verloren“, sagt sie empört – also genau der Anteil, den sie in der Politik verkörpert. Emotionen und Befindlichkeiten, mit denen sie hartgesottenen Pragmatikern einfach nur auf die Nerven geht. Sie weiß das: „Manchmal werde ich für meine Überzeugung gescholten, manchmal gelobt.“ Auf die Bühne geht die gelernte Theaterdramaturgin trotzdem immer wieder, weil sie das gerne macht und einfach gut kann: Sie hat Ausstrahlung und Präsenz, sie kann sich selbst und Themen inszenieren. Und wenn sie „Ton Steine Scherben“ als eine Projektionsfläche für Träume und Wut beschreibt, spricht sie auch von sich selbst. Die Claudia, das wandelnde gute Gewissen der Grünen, die unbeirrt an den Idealen von früher festhält – auch und erst recht in Zukunft: Sind denn Frauen, sind denn Homosexuelle tatsächlich gleichberechtigt? Sind Folter und Ungerechtigkeit schon aus der Welt? Sie bleibt dran an den „Gedöns“-Themen, die sich andere gerne für den Sonntag aufsparen.

„Wir haben Globalisation, Schätzchen!“, fährt ihr eine streitbare ältere Dame plötzlich in die humanitäre Parade – sie wird einfach nicht ernst genommen, da kann sie sich noch so beherzt mit afghanischen Gotteskriegern und türkischen Macho-Politikern anlegen, der schlimmste Gegner lauert im eigenen Lager: zu extrovertiert, zu populistisch. Kreuzberger Partymaus ohne Schimmer von politischen Inhalten – sogar Michel Friedman, der sie und ihr Buch an diesem Abend gut verkaufen soll, scheint nichts als Häme für sie übrig zu haben und bringt sie ständig auf die Palme. Vielleicht nur ein Trick, um vorzuführen, dass Claudia Roth nicht nur lieb und herzig ist, sondern auch verdammt böse werden kann, wenn man sich ihr und ihrer Meinung in den Weg stellt?

Ganz egal, wie schnell Claudia Roths Buch auf den Grabbeltischen landet, in der Politik wird sie noch gebraucht werden – und sei es als grüner Retro-Klassiker. Eine Nachfolgerin für sie scheint jedenfalls noch nicht geboren zu sein. Bis dahin werden Erinnerungen weiterhin die Zukunft bestimmen.

KAUFEN? Nein. Claudia Roth genießt man am besten live – und bei guten Platten achtet man ja auch nicht immer auf den Text.

MARTIN REICHERT